Bettina Röhl direkt Ist Putin der moralische Blitzableiter des Westens?

Seit dem Abschuss der Boeing MH17 haben sich die Staaten des Westens auf wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland geeinigt. Mit allen Mitteln soll Putin in die Knie gezwungen werden. Alles für den Weltfrieden und die Moral?

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Russland wird vom Westen als Sündenbock gesehen. Quelle: dpa

Falsche Moral ist ein gefährlicher Ratgeber in der Politik und erst recht in der Weltpolitik. Der Westen erweist sich notorisch als unfähig seine höchst eigenen Werte, zum Schutze von bedrohten Menschen und Völkern durchzusetzen. Dem Westen kommt zunehmend selbst die Fähigkeit zu seinen eigenen Werten überhaupt zu stehen, abhanden. Innere Zersetzungsprozesse des Westens tragen dazu bei, dass sich dieser Westen höchst selber moralisch abwirtschaftet und die Fähigkeit zur Verteidigung seiner selbst, seiner Menschen und eben seiner Werte verliert. Die westliche Nomen Klatura ist aus einer Fülle höchst unterschiedlicher Gründe unfähig die Führungsrolle, die der Westen zur Zeit de facto noch hat, vernünftig und eben auch moralisch und sinnvoll auszuüben.

Die oft von vielen Menschen beklagten Menschenrechtsverletzungen in China, in Saudi-Arabien, im Iran, in  Nordkorea, in Pakistan, in Afghanistan oder in diversen Staaten "des Bösen" wie der böse George W. Bush sie nannte, kratzen die westliche Politik herzlich wenig. Ethnisch und religiös bedingte Bürgerkriege in Afrika, denen Millionen von Menschen in den letzten Jahrzehnten zum Opfer fielen, jucken den Westen bestenfalls peripher. Der blutige Vormarsch der sogenannten Islamisten ist für den Westen so gut wie kein Thema.

Bestenfalls läuft die schwelgerische Beschäftigung des Westens mit sich selber darauf hinaus, dass es eben dieser Westen ist und der weiße Mann, der die Quelle allen Übels dieser Welt wäre. Moralisch versagt der Westen in Sachen Weltpolitik regelmäßig und teilweise versagt der Westen sogar mit einem moralinen Überbau, mit dem das moralische Versagen kaschiert werden soll.  

Die Sehnsucht nach dem guten alten Kalten Krieg

Und jetzt plötzlich gibt es eine gespenstische, eine gefährliche, eine dumpfe und selbstgerechte Einigkeit der westlichen Politiker und der westlichen Medien und der üblichen Trittbrettfahrer: Der russische Präsident Wladimir Putin und sein Regime, aber in erster Linie seine Person, sind das Böse der Welt, sind die absolute Bedrohung des Westens und überhaupt der Menschheit.

Wirtschaftliche Überlegenheit des Westens

Nein, den dritten Weltkrieg, der schon ziemlich locker von vielen Stimmen herbei phantasiert wird, den will man nicht, den wird es wohl nicht geben, aber die Sehnsucht nach früher, die Sehnsucht nach dem guten alten Kalten Krieg mit dem Schauer des atomaren Overkills, als die Welt noch in Ordnung und in Gut und Böse eingeteilt war und als alle anderen real existierenden Probleme noch nicht existierten, ist greifbar zu spüren.

Die Schizophrenie der Geschichte des Kalten Krieges soll hier nicht verschwiegen werden. Es gab die zur Schau gestellte moralische, wirtschaftlich finanzielle Überlegenheit des Westens.

China holt im weltweiten Waffenhandel auf
Ein Panzer bei einer Militär-Parade in Venezuela Quelle: dapd
Menschen hängen eine algerische Flagge auf Quelle: REUTERS
Die deutsche Fregatte "Hessen" Quelle: dpa/dpaweb
 Die griechische Fregatte Salamis und zwei kleinere Marine-Schnellboote Quelle: dpa/dpaweb
Drei F/A-18 Kampfflugzeuge Quelle: REUTERS
Ein Soldat schaut durch das Zielkreuz eines Maschinengwehrs Quelle: dpa/dpaweb
Ein chinesisches U-Boot taucht ab Quelle: dapd

Aber eben dieser Westen des Kalten Krieges wurde viel weniger vom russischen, vom sowjetischen Kommunistenzar, von Stalin bis Breschnew bedroht, als vielmehr von der sogenannten fünften Kolonne in Gestalt der Westlinken, die den Westen und den Kapitalismus als das eigentliche historische Übel ausmachten. Diese Selbstzerstörungskräfte halten den Westen seit über vierzig Jahren im Würgegriff.  Inzwischen haben sie sich gewandelt und jetzt haben die herrschenden Kreise im Westen, die seit langem von der beschriebenen Schizophrenie befallen sind, nämlich den Westen gleichzeitig für das moralische Nonplusultra der historischen Entwicklung zu halten und ihn gleichzeitig für die Quelle allen Übels zu erachten, ein neues Betätigungsfeld gefunden. Endlich ist man sich im Westen einig. Man hat ihn gefunden, den optimalen moralischen Gegner: Wladimir Putin heißt der Mann, auf den man ab sofort mit großem Gewinn für die eigene Person eindreschen sollte und in jedem Fall darf. Sogar wirtschaftliche Sanktionen, auf die sich der Westen in Wahrheit so gut wie nie einigen kann, sind gegen Putins Russland jetzt erste Wahl und dies ganz unabhängig von Sinn und Nutzen und auch ganz unabhängig von der Gefährdung eigener wirtschaftlicher Interessen.

Das Moment des sich moralisch In-die-eigene -Tasche-Heuchelns liegt klar auf der Hand, aber was macht das schon, wenn alle, von Obama bis Merkel, im Gleichtakt mitheucheln. Putins Politik gegen die Ukraine wird an dieser Stelle nicht beschönigt. Aber diese Politik ist hier nicht Gegenstand. An dieser Stelle geht es darum festzustellen, dass der Westen sein systematisches moralisches Versagen in der Weltpolitik nicht dadurch kompensieren kann, dass er sich in einem, verglichen mit anderen Weltkonflikten, glücklicherweise viel milderen Fall mit Namen Ukraine unverhältnismäßig, diametral entgegen gesetzt verhält, wie er es sonst zu tun pflegt. Es wäre sicher eine Katastrophe, wenn Putin von heute auf morgen die politische Bühne verließe. Das Vakuum, das er hinterließe, wäre eine echte unkalkulierbare Gefahr für die Menschen und für den Frieden in der Region.

Auf Putin mit langem Atem moderierend einzuwirken, ist nicht spektakulär, aber der einzige Weg, der historisch Sinn macht. Putin zu verteufeln und ihm persönlich Dinge zuzuschreiben, die weder plausibel noch bewiesen sind oder ihm gar in einem strafrechtlichen Sinn angelastet werden können, macht wenig Sinn. Politik, die auf inzwischen landläufig gewordenen Zuschreibungen basieren, ist kein Zeichen von politischer Kunst, sondern eines von politischer Stümperei. Mit Moral hat derlei ohnehin nichts zu tun. Wenn ein deutsches Leitmedium namens Spiegel aus der sicheren Distanz von 2000 Kilometer Entfernung wütend auftrumpft und titelt "Stoppt Putin jetzt" ist dies ein deutliches Symptom der moralischen Entgleisung, die hinter der neuen Moralpolitik, die gegen einen einzigen Mann administriert wird, steckt.

Der Abschuss der Boeing wurde letzte westmoralische Gewissheit

Wie war das noch gleich am 11.September 2001. Damals zerstörten Islamisten das World Trade Center in New York. Die herrschende Westlinke war sich bald einig, dass der böseste vom bösen, George W. Bush war, dass der Kapitalismus selbst Schuld hatte, und dass die Islamisten nur getan hatten, was sie tun mussten. Es dauerte nicht lange bis Bush von durchaus prominenter Seite mal mit Osama Bin Laden, mal mit Saddam Hussein verglichen wurde.

Wo deutsche Unternehmen in Russland aktiv sind
E.On-Fahnen Quelle: REUTERS
Dimitri Medwedew und Peter Löscher Quelle: dpa
Dem Autobauer bröckelt in Russland die Nachfrage weg. Noch geht es ihm besser als der Konkurrenz. Martin Winterkorn hat einige Klimmzüge machen müssen - aber theoretisch ist das Ziel erreicht: Volkswagen könnte in Russland 300.000 Autos lokal fertigen lassen. Den Großteil stellen die Wolfsburger in ihrem eigenen Werk her, das 170 Kilometer südwestlich von Moskau in Kaluga liegt. Vor gut einem Jahr startete zudem die Lohnfertigung in Nischni Nowgorod östlich Moskau, wo der einstige Wolga-Hersteller GAZ dem deutschen Autoriesen als Lohnfertiger zu Diensten steht. Somit erfüllt Volkswagen alle Forderungen der russischen Regierung: Die zwingt den Autobauer per Dekret dazu, im Inland Kapazitäten aufzubauen und einen Großteil der Zulieferteile aus russischen Werken zu beziehen. Andernfalls könnten die Behörden Zollvorteile auf jene teuren Teile streichen, die weiterhin importiert werden. Der Kreml will damit ausländische Hersteller zur Wertschöpfung vor Ort zwingen und nimmt sich so China zum Vorbild, das mit dieser Politik schon in den Achtzigerjahren begonnen hat. Die Sache hat nur einen Haken: Die Nachfrage in Russland bricht gerade weg - nicht im Traum kann Volkswagen die opulenten Kapazitäten auslasten. 2013 gingen die Verkäufe der Marke VW um etwa fünf Prozent auf 156.000 Fahrzeuge zurück. Wobei die Konkurrenz stärker im Minus war. Hinzu kommt jetzt die Sorge um die Entwicklungen auf der Krim. VW-Chef Martin Winterkorn sagte der WirtschaftsWoche: "Als großer Handelspartner blicekn wir mit Sorge in die Ukraine und nach Russland." Er verwies dabei nicht nur auf das VW-Werk in Kaluga, sondern auch auf die Nutzfahrzeugtochter MAN, die in St. Petersburg derzeit ein eigenes Werk hochfährt. Der Lkw-Markt ist von der Rezession betroffen, da die Baukonjunktur schwächelt. Quelle: dpa

Das ist vielleicht etwas schwarz gezeichnet, aber es trifft den Kern dessen, was nach der anfänglichen Empörung aus der Sache heraus kam. Letzte Woche beschwor nun der besagte Spiegel Ground Zero-Phantasien, die voll im Trend liegen: Der Abschuss der Boeing MH17 wurde zur letzten westmoralischen Gewissheit, dass Putin ab sofort mit allen nicht kriegerischen Mitteln und mit jedem finanziellen Engagement zu bekämpfen sei.

Nochmal zur Westlinken: Sie unterstützte bekanntlich den sozialistischen Kampf palästinensischer Terroristen gegen Israel, die für ihren Kampf von der damaligen Sowjetunion (und mit Unterstützung der DDR) mit Kalaschnikows ausgestattet wurde. Die Kalaschnikow wurde in den siebziger Jahren zum Kampfsymbol der palästinensischen Terroristen, aber eben auch der fanatischen Westlinken gegen den verhassten Westen. In dieser Tradition agiert der damals überengagierte Spiegel auch jetzt wieder, mit dem einzigen Unterschied, dass die blumig-schwülstige und in übelster Scholastik verfasste "Beweiskette", dass Putin gleichsam die Boeing abschießen ließ oder mindestens der hauptverantwortliche Waffenlieferant wäre, diesmal - anders als damals -  gegen den Waffenlieferanten gerichtet ist.

Moral, die nicht der Moral verpflichtet ist, sondern situativ dem eigenem Mainstream-Standing  nutzbar gemacht wird, ist alles nur nicht Moral. Schlimm genug, dass Putins Expansionspolitik die Grundsätze der Moral und des Völkerrechtes missachtet. Die Auseinandersetzungen in der Ukraine zwischen Vertretern der russischen Minderheit und der ukrainischen Regierung fordert Tote und Verletzte. Dies bislang glücklicherweise nicht in einem Ausmaß wie etwa die von der westlichen Politik de facto weitgehend ignorierten Bürgerkriege in Afrika, Asien oder teilweise Lateinamerika.

Hier liegt das Augenmerk auf der zur Schau getragenen moralischen Entrüstung des Westens, der global und allumfassend operiert und zwischen mörderischen oder gar völkermörderischen Konflikten einerseits und jetzt der Putinschen Expansionspolitik, die zu intolerablen Auseinandersetzungen in der Ostukraine geführt hat, in moralisch nicht nachvollziehbarer Weise differenziert.

Es scheint "moralisch" verlockend zu sein in einer panwestlichen, konzertierten Moralaktion Putin mit im Zweifel wirkungslosen Sanktionen zu konfrontieren und dabei sogar von eigenen finanziellen Folgeschäden zu schwärmen. Auch wenn die öffentliche Meinung auf Putin-Konflikt gebürstet ist, dies ist keine gekonnte und auch keine moralische Politik.

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