Bevorstehender Einmarsch Das riskante Kalkül der Türken in Syrien

Das türkische Militär beginnt wie geplant den Einmarsch ins syrische Kurdengebiet. Der Konflikt könnte viele Todesopfer fordern. Die Türkei will ihren Einfluss ausbauen – auch gegenüber den USA. Eine Analyse.

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Ein türkischer Panzer fährt am 18.01.2018 in Reyhanli (Türkei) in Richtung der syrischen Grenze. Nach der Ankündigung einer neuen Militäroperation gegen die Kurden im Nordwesten Syriens hat die Türkei weitere Truppen an die Grenze verlegt. Syriens Führung drohte im Gegenzug mit dem Abschuss türkischer Jets, sollten diese syrisches Gebiet bombardieren. (zu dpa: «Türkei verlegt Truppen an syrische Grenze - Damaskus droht» vom 18.01.2018) Foto: Uncredited/AP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa

Ankara/Moskau Die türkische Armee hat in der Nacht zu Freitag mit massivem Beschuss kurdischer Dörfer in der syrischen Grenzregion Afrin begonnen. Nach Angaben der Kurdenmiliz YPG schlugen etwa 70 Granaten in mehreren Ortschaften ein. Der türkische Verteidigungsminister Nurettin Canikli sagte, damit habe de facto die seit Tagen angekündigte Offensive gegen die Miliz begonnen. Soldaten hätten die Grenze aber noch nicht überschritten, sagte der Minister laut der Nachrichtenagentur Reuters dem türkischen Fernsehsender AHaber.

Die türkische Führung in Ankara greift damit zum zweiten Mal innerhalb von 18 Monaten direkt in den Syrienkrieg ein. Beim ersten Einmarsch im Grenzgebiet bombte das türkische Militär ein Gebiet von der Größe eines deutschen Bundeslandes frei. Damals starben mehr als 60 türkische Soldaten. Das droht auch diesmal.

Die Gemengelage ist – wie schon lange – komplex und hochexplosiv. Während Russland gemeinsam mit dem Iran den syrischen Staatschef Baschar al-Assad stützt, steht die Türkei seit Beginn des Konflikts im Jahr 2011 auf der Seite der nicht-kurdischen Opposition im Land. Die USA wiederum haben sich mit Rebellen der kurdischen YPG in Syrien zusammengetan.

Um das einst gemeinsame Ziel – nämlich den Islamischen Staat auszurotten – geht es längst nicht mehr. Sondern um Einfluss in einer Region, die geostrategisch wichtig und äußerst fragil ist. Ankara zwingt jetzt die Regierungen in Washington und Moskau, sich auf eine Seite zu schlagen. Am Ende könnte die Rechnung für den türkischen Staatschef Erdogan aufgehen. Russische Truppen haben sich in diesen Stunden schon aus der Region zurückgezogen. Washington droht, den Anschluss zu verlieren.

Die türkische Regierung hat angekündigt, in Afrin sowie im 100 Kilometer östlich gelegenen Manbidsch einzugreifen, um gegen die kurdische Miliz YPG vorzugehen. Das Gebiet südlich davon wird von syrischen Truppen beherrscht. Die Türkei verfolgt das Erstarken kurdisch geprägter Milizen im syrischen Grenzgebiet schon lange mit Argwohn.

Die Regierung in Ankara betrachtet die YPG als Schwesterorganisation der verbotenen PKK, die in der Türkei seit Jahrzehnten mit Brutalität für mehr Autonomie kämpft. In dem Konflikt sind Zehntausende Menschen getötet worden. Seine Regierung stimme sich weiter mit Russland über die Militäraktion ab, erklärte Ankaras Verteidigungsminister Canikli am Freitag. Am Donnerstag sollen sich die ranghöchsten Militärs der beiden Länder darauf geeinigt haben, dass Moskau den türkischen Militärschlag duldet – wenig später dann die Bekanntgabe des Rückzugs der Russen.

Ein weiterer Einmarsch der Türken nach Syrien hätte Moskau bis vor kurzem wenig gepasst. Derzeit sind Russland allerdings die Hände gebunden, die Allianz mit Ankara basiert auf dem Verzicht Moskaus, die Kurden weiter zu unterstützen. Und: Die USA haben Pläne für eine Grenztruppe mit 30.000 Mitgliedern angekündigt, die von Kurden unter anderem aus der YPG angeführt werden soll. Die Türkei hatte das scharf kritisiert, auch dem Kreml dürfte das nicht gepasst haben. Auch, weil die YPG aktuell rund ein Viertel der Fläche Syriens kontrolliert.

Dass das türkische Militär nun offenbar doch einmarschieren darf, zeigt daher einen deutlichen strategischen Schwenk der Russen, deren Politik sich nun aktiv gegen die der Amerikaner in der Region stellt. Einst hatte der Kreml nämlich selbst mit den Kurden angebändelt. Im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat waren die Milizen eine willkommene Bodentruppe zur Ergänzung der russischen Luftschläge.

Während der türkisch-russischen Krise nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets im Grenzgebiet durch einen türkischen Abfangjäger liebäugelte Moskau sogar mit der Anerkennung kurdischer Unabhängigkeitsbestrebungen. Doch seit der Annäherung mit Ankara ist das Verhältnis zu den Kurden wieder abgekühlt.

Das Vorgehen der USA in Syrien wird von der russischen Führung hart kritisiert. Die jüngst geäußerten Pläne, eine 30.000 Mann starke Kurdenmiliz zu bewaffnen, verurteilte Lawrow in seiner Bilanzpressekonferenz diese Woche als versuchte Zerstückelung Syriens. „Die Handlungen, die wir sehen, zeigen, dass die USA die territoriale Einheit Syriens nicht bewahren wollen“, sagte Lawrow. Die kurdischen Milizen sahen lange so aus, als könnten sie als lachender Dritter aus dem brutalen Syrienkonflikt hervorgehen: mit mehr Einfluss, größerer Autonomie oder sogar einem eigenen Staat. Jetzt sind sie zum Spielball der Machtinteressen in der Region geworden.

Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu fasste die Situation der Kurden in einem Gespräch mit deutschen Journalisten Anfang Januar so zusammen: Er kritisierte, dass sowohl Russland als auch die USA die Kurdenmilizen der YPG in Nordsyrien nacheinander unterstützten. Russland gebe gegenüber der Türkei an, dass die YPG sich ansonsten an die Amerikaner wenden würde. „Die Amerikaner nutzen genau dieselbe Entschuldigung.“

Jetzt greifen die Türken erneut ein. Weil die Kurden in der fraglichen Region teils schwer bewaffnet sind, könnte der Konflikt schnell eskalieren und viele Todesopfer fordern. Sollte die Türkei am Ende die YPG-Rebellen vertreiben, wäre das allerdings auch ein Schlag gegen den amerikanischen Einfluss im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Kremlchef Wladimir Putin – der sich mit dem türkischen Staatschef Erdogan wieder bestens versteht – dürfte das freuen. Am Ende könnte der Militäreinsatz die Rolle der Türkei als neues Machtzentrum in der Region deutlich stärken. Ein riskantes Kalkül. Aber aus Sicht des Machtpolitikers Erdogan offenbar ein logisches.

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