Bialowieza-Urwald Warum Polen sein jahrtausendaltes Naturerbe verscherbelt

Jahrtausende hat der Bialowieza-Urwald ohne Eingriffe des Menschen überstanden. Nun will ihn die polnische Regierung zu Geld machen. Naturschützer sind entsetzt, aber der Umweltminister hält an seinem Plan fest.

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Polen streitet über den Erhalt des Unesco-Naturschutzgebiets. Quelle: AP

Warschau Er ist der letzte Überrest eines Urwaldes, der über Jahrtausende die Ebenen Europas und Russlands bedeckte. Europäische Bisons und Luchse durchstreifen das einzigartige Gebiet auf beiden Seiten der polnisch-weißrussischen Grenze, in dem riesige, bis zu 600 Jahre alte Eichen stehen. Doch nun ist der Bialowieza-Urwald akut bedroht, denn die neue polnische Regierung will in Teilen des Waldes großflächig Holz schlagen lassen. Der Plan stößt bei Naturschützern und vielen Wissenschaftlern auf scharfen Protest, sie kämpfen um den Erhalt des Unesco-Weltnaturerbes.

Sieben Umweltorganisationen, darunter Greenpeace und der WWF, haben deswegen bei der EU-Kommission Beschwerde eingereicht. Sie hoffen, die Baumfällungen noch verhindern zu können, die in den kommenden Tagen beginnen sollen.

Bialowieza zählt nach EU-Recht zum „Natura 2000“-Netzwerk von Schutzgebieten. EU-Vertreter haben erklärt, sie arbeiteten mit den polnischen Behörden, um sicherzustellen, dass jegliche Eingriffe in den Wald im Einklang mit den Bestimmungen stehen. Was das im Ergebnis bedeutet, ist noch unklar.

Der Erhalt von Bialowieza ist ein solch sensibles Thema, dass der Konzern Ikea, der für seine weltweite Möbelproduktion zu 25 Prozent Holz aus Polen nutzt, schon vor Jahren zusicherte, kein Holz aus Bialowieza zu kaufen. „Dieser Wald ist ein polnischer Schatz, aber er ist auch der Schatz der Erde, und wir könnten ihn verlieren“, sagt Katarzyna Kosciesza von ClientEarth, einer der Organisationen, die Beschwerde eingereicht haben.

Die Regierung der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat seit ihrem Amtsantritt im November eine ganze Reihe umstrittener Maßnahmen umgesetzt, die von ihren Gegnern als demokratie- und verfassungsfeindlich angesehen werden. Parteichef Jaroslaw Kaczynski hat angekündigt, das Land gemäß den katholischen und patriotischen Leitlinien der Partei umzubauen und den Einfluss der früheren Kommunisten und proeuropäischer Kräfte, die Polen zuletzt regierten, zurückzudrängen. Der neue Umgang mit dem Wald gehört dazu.

Mit Blick auf Bialowieza machen Regierungsvertreter ihre Vorgänger wegen der bisher strengen Schutzmaßnahmen für finanzielle Verluste verantwortlich. Umweltminister Jan Szyszko beanstandete auch, dass sie bei der Unesco die Anerkennung des Waldes als Weltnaturerbe erreicht hatten – denn das bringt internationale Kontrolle mit sich.

Etwa 35 Prozent des Waldes auf polnischer Seite umfassen einen Nationalpark und Naturreservate, streng geschützte Zonen, die auch die Regierung nicht antasten will. Ihre Vertreter argumentieren, die geplanten Fällungen schadeten nicht, da sie lediglich in bewirtschafteten Teilen des Waldes erfolgten, wo bereits in der Vergangenheit Holz geschlagen wurde. Umweltschützer sagen jedoch, das Vorhaben sei so extensiv angelegt, dass es unweigerlich zur Zerstörung bislang unberührter Gebiete führen werde.


„Der Wald ist wirklich einzigartig“

Etwa die Hälfte des Forsts gilt noch als solch unberührtes Gebiet. Seit der Entstehung des Waldes vor 8000 bis 9000 Jahren nach dem Ende der letzten Eiszeit griff der Mensch dort nie in größerem Maß ein. Dadurch entwickelte sich eine komplexe Vielfalt von Spezies, die es in anderen europäischen Wäldern längst nicht mehr gibt. Dass der Urwald erhalten blieb, ist früheren polnischen und litauischen Monarchen sowie den russischen Zaren zu verdanken, die ihn als Jagddomäne nutzten. Erst in den vergangenen 100 Jahren begann die wirtschaftliche Nutzung.

Umweltminister Szyszko entließ 32 von 39 wissenschaftlichen Experten des Staatsrats für Naturschutz, nachdem sie die Fällpläne kritisiert hatten. Ersetzt wurden sie überwiegend durch Personen aus der Forst- und Jagdwirtschaft. Die neue Vorsitzende des Staatsrats, Wanda Olech-Piasecka, tritt auch für eine begrenzte kommerzielle Jagd auf Europäische Bisons – sogenannte Wisente, eine gefährdete Art – ein.

Laut Umweltministerium sind die Fällungen nötig, um die Verbreitung des Borkenkäfers zu stoppen, dem seit 2013 zehn Prozent der Fichten im Park – drei Prozent der Bäume insgesamt – zum Opfer gefallen sind. Wissenschaftler sehen darin lediglich einen Vorwand. Sie glauben, tatsächlich gehe es um den Profit aus dem Holz der Baumriesen. Eine Entfernung von Totholz schade dem Ökosystem des Waldes, sagen sie. Die abgestorbenen Fichten böten Tausenden anderen Spezies wie Würmern, Insekten und Pilzen Lebensraum, die wiederum Vögeln als Nahrung dienten.

Hohle, absterbende Baumstämme eigneten sich als Nistplätze, etwa für den Sperlingskauz oder den seltenen Dreizehenspecht. Dank des Borkenkäfers habe sich die Zahl dieser Spechtart verdoppelt oder gar verdreifacht, sagt Rafal Kowalczyk, Direktor des Instituts für Säugetierforschung an der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Forscher erklären, der Tod einiger Fichten schaffe Raum für andere Spezies und sei Teil der Anpassung des Waldes an den Klimawandel. Zudem müssten 80 Prozent der befallenen Bäume abgeholzt werden, um das Auftreten der Käfer auch nur zu verlangsamen. Das sei logistisch unmöglich.

Kowalczyk erklärt, die Borkenkäfer gehörten zum Kreislauf des Waldes und hätten dessen Existenz noch nie bedroht. Auch jetzt werde dies nicht geschehen. „Dieser Wald wird seit Tausenden Jahren von der Natur geformt. Er ist wirklich einzigartig, und wir sollten ihn nicht zu einem bewirtschafteten Wald machen“, sagt der Experte. „Dieser Überrest eines uralten Waldes zeigt uns, wie Wälder vor Hunderten, sogar Tausenden Jahren aussahen.“

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