Der Boom hatte auch Verlierer, von Anfang an. Weil der chinesische Nationalsport Glücksspiel an den Börsen des Landes viel mehr Erfolg versprach als jeder Spielkasino-Besuch, waren in dem kleinen Zockerparadies auf der Insel Macau seit vergangenem Sommer die Umsätze um 40 Prozent zurückgegangen. Weit weg von dieser kuriosen Insel in der Nähe von Hongkong hatten die Chinesen mehr Anlass zum Feiern: Seit dem Sommer vor einem Jahr waren die Kurse an den Börsen des großen Landes explodiert, der maßgebliche Index SSE Composite in Shanghai stieg von 2200 Punkten Anfang August 2014 auf 5100 am 12. Juni. Trotz des langsameren Wirtschaftswachstums, trotz der wachsenden Probleme der riesigen, für die Weltkonjunktur so überaus wichtigen chinesischen Volkswirtschaft. Oder gerade darum.
Die fünf großen Gefahren für Chinas Wirtschaftswachstum
Seit Jahren schießen die Immobilienpreise in Chinas Großstädten in ungeahnte Höhen - seit Monaten mehren sich jedoch Zeichen für einen Kollaps.
Neben den trägen Staatsbanken hat sich in China ein großer Markt von nicht-registrierten Geldinstituten etabliert, die der Staat bislang nicht kontrollieren kann.
Banken haben ohne genaue Prüfung Firmen immense Kredite für unproduktive und verschwenderische Investitionen gegeben.
Mit Subventionen der Regierung haben viele Branchen gewaltige Überkapazitäten aufgebaut, beispielsweise die Solarindustrie. Aber sie werden ihre Produkte nicht los.
Chinas Wirtschaft hängt vom Export ab. Geraten wichtige Abnehmerländer in Krisen, hat auch China Probleme.
Seit dem 12. Juni ist der wichtigste chinesische Aktienmarkt in Shanghai um fast 30 Prozent eingebrochen. Am Mittwoch ging es erneut bergab: Die Shanghaier Börse öffnete um rund sieben Prozent niedriger, während die Börse in Shenzhen fast fünf Prozent tiefer lag. Die Zentralbank will den Börsenrutsch mit weiteren Krediten stoppen. Wie sie am Mittwoch mitteilte, will sie mit Hilfe einer staatlichen Firma „reichlich Liquidität“ bereitstellen, um damit für Stabilität an den Märkten zu sorgen. Fast die Hälfte der Aktien wurde inzwischen vom Handel ausgesetzt. 1287 Unternehmen wurden am Mittwoch nicht mehr gehandelt. Das seien 45 Prozent der Aktien im Shanghai Composite und im Shenzhen Component Index mit einer Marktkapitalisierung von 2,5 Billionen US-Dollar, berichtete das „Wall Street Journal“ anhand von FactSet-Daten.
Mittel- und langfristig orientierte Anleger sollten die Talfahrt nach den gewaltigen Gewinnen zuvor verkraften können – gerade das aber sind die meisten Betroffenen nicht. Millionen Chinesen mit teilweise geringem Vermögen haben in den Monaten des Booms die Börse als scheinbar sichere Geldvermehrungsanlage entdeckt. Wenn sie jetzt viel Geld verlieren, schlägt sich das unmittelbar auf die chinesische Realwirtschaft nieder.
Bedroht sind darum die Pläne der Pekinger Führung, weiteres Wachstum auf verstärkte Binnennachfrage zu stützen. Bedroht ist darum die wirtschaftliche Stabilität der chinesischen Volkswirtschaft. Bedroht sind darum mittelfristig Exportvorhaben deutscher Unternehmen – und die Weltkonjunktur.
Erst Boom, dann Bust
Seit Jahresbeginn waren viele Aktien an den Börsen von Shanghai und Shenzhen um mehr als 50 Prozent gestiegen. In Shenzhen kletterte der Index um 74 Prozent, das durchschnittliche Kurs-Gewinn-Verhältnis der dort notierten Aktien lag bei unglaublichen 64. Der Index Shanghai-Shenzhen-CSI300, der aus vielen jungen Technologieunternehmen besteht, stieg auf das Doppelte. Es war ähnlich wie beim amerikanischen Nasdaq um die Jahrtausendwende.
Mit der realwirtschaftlichen Entwicklung hatte das natürlich nichts zu tun. Immerhin sind die offiziellen chinesischen Wirtschaftsdaten so schlecht wie seit Langem nicht mehr. Um etwa sieben Prozent wird die Volkswirtschaft dieses Jahr nach offizieller Lesart wachsen. Das ist der niedrigste Wert seit sechs Jahren – doch ob er überhaupt erreicht wird, daran haben nicht wenige ihre Zweifel.
Gewiss: Das schwächere Wachstum ist politisch gewollt. Die Wirtschaft soll sich von Quantität auf Qualität, von Fertigung auf Service und von Investition auf Konsum umstellen. „Neue Normalität“ nennen das die Kader in Peking. Die aber ist schwer zu erreichen, zumal das Land sich mit einer zu hohen Verschuldung herumschlägt, mit versteckten faulen Krediten und einem aufgeblähten Immobiliensektor. Und dazu kommen jetzt die Irrungen und Wirrungen am Aktienmarkt.
Dessen Explosion passte ins Konzept. Denn kleinere Unternehmen, deren Geschäftsmodell an moderner Technologie hängt, sind volkswirtschaftlich zwar immens wichtig, haben aber gewaltige Probleme mit der Finanzierung. Die staatlichen Banken geben ihre Darlehen viel lieber an Staatsunternehmen – die sind zwar oft unproduktiv, aber dank staatlicher Absicherung kreditwürdig. Der Boom am Aktienmarkt hat da eine Lücke gefüllt und vor allem kleineren Privatunternehmen geholfen, sich zu kapitalisieren. Darum wurde „die Blase vonseiten des Staates gefördert“, sagt Sandra Heep, Finanzexpertin am Mercator Institute for China Studies in Berlin.
Leitzinsen zum vierten Mal gesenkt
Das funktionierte nur so lange, wie die Kurse stiegen und stiegen. Und dann sauste ausgerechnet der CSI300-Index mit den vielen Technologieunternehmen aus Shenzhen und Umgebung in wenigen Tagen um 30 Prozent in den Keller. Worauf die Wirtschaftspolitiker in Peking beschlossen, den Markt zu stützen.
Zuletzt hat die Zentralbank darum erneut die Leitzinsen gesenkt, schon zum vierten Mal seit Oktober (siehe Grafik). Gleichzeitig reduzierte sie die Mindesteinlagepflicht der Geschäftsbanken. Beide Maßnahmen sollen dazu führen, dass sowohl mehr Kredite vergeben werden als auch mehr Liquidität in Aktien fließt. Ein gefährliches Spiel: Funktionieren würden diese wirtschaftspolitischen Konzepte nur bei langsam, aber stetig steigenden Kursen an den Börsen des Landes. Dazu kann es aber schon wegen der neuen Börsenleidenschaft vieler Chinesen nicht kommen.
Die chinesischen Börsen haben seit ihrer Gründung 1990 vor allem risikoaffine Anleger angezogen, im Klartext: Zocker. Die Kapitalisierung war bis vor Kurzem gering, große chinesische Unternehmen sind lange Zeit mit ihren Börsengängen nach Hongkong oder New York ausgewichen. Und die meisten chinesischen Anleger investierten ihre Ersparnisse lieber in Immobilien.
Immobilienpreise eingebrochen
Das hätte so bleiben können, wären die Immobilienpreise nicht voriges Jahr eingebrochen: weniger in den großen Metropolen an der Ostküste, dafür in manchen Provinzen fast um 50 Prozent. Für Anleger war jetzt der Aktienmarkt fast die einzige Alternative, weil die Sparzinsen niedriger sind als die Inflationsrate und für Anleihen kaum ein Markt existiert. Überdies erlaubte die Regierung erstmals auch Ausländern, auf dem Umweg über Hongkong in Shanghai oder Shenzhen zu investieren. „Die Geldmaschine ist vom Immobilien- auf den Aktienmarkt gewandert“, sagt der chinesische Starökonom Andy Xie, ehemals Analyst bei Morgan Stanley.
Und weil das so war, gesellten sich die Zocker zu den ratlosen Sparern. Zwei Drittel der Neuanleger an den Börsen haben angeblich keinen weiterführenden Schulabschluss. Es gibt ganze Bauerndörfer, die für ihr Erspartes Aktien gekauft haben. In einer einzigen Woche im Mai wurden vier Millionen neue Depots registriert. Auf vielen liegt geliehenes Geld: Im Crash kann das heißen, dass Anleger das Abenteuer Börse mit unbezahlbaren Schulden beenden müssen. Sollte es Millionen relativ armer chinesischer Familien so gehen, droht die soziale Explosion.
Langfristige Gefahr
Dazu muss es freilich nicht kommen: Die Börsenzocker sind immer noch eine Minderheit des Milliardenvolks geblieben. Aber auch die Mehrheit, die von der Börse wenig wissen wollte, ist von den Langzeitfolgen des Auf und Ab in Shanghai und Shenzhen betroffen.
Denn gerade die Reaktion der Zentralbank lässt vermuten, dass Peking jetzt in die alte dirigistische Stimulus-Politik zurückfällt. Und wenn der Crash weitergeht, wird das die überfällige Reform des Finanzsektors und der Wechselkurspolitik weiter verzögern.
Für an China interessierte Unternehmer klingt das bedrohlich. Mit Ausnahme der amerikanischen Investoren, die an den Kasinos in Macau beteiligt sind.