Bolivien Die Insel der wirtschaftlichen Stabilität – wie lange noch?

Ein Blick auf Chua Uma in der Nähe von La Paz, Bolivien. Quelle: REUTERS

Während andere unter Wirtschaftskrisen ächzen, gilt Bolivien als Hort von Stabilität und Wachstum in Südamerika. Doch die Abhängigkeit von Erdgasexporten und die Krisen der Nachbarländer bedrohen den Wohlstand.

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Während des Wirtschaftsbooms in Bolivien konnte Abraham Rodríguez seinen kleinen Schuhladen in den vergangenen Jahren zu einer Fabrik mit mehr als einem Dutzend Mitarbeitern ausbauen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute kann er nur noch einen Arbeiter beschäftigen. Die steuerfreie Einfuhr von Waren und der Schwarzmarkt hätten seinem Umsatz geschadet, und er habe sich verschulden müssen, sagt Rodríguez, der sein Geschäft in der Hauptstadt La Paz betreibt. „Mein Leben war vor zehn Jahren besser. Es gab Umsatz, und der Schuhladen ist gewachsen. Heute ist der Markt geschrumpft. Meine Angestellten sind gegangen, weil ich es mir nicht mehr leisten konnte, ihre Gehälter zu zahlen.“

Während Nachbarländer unter Wirtschaftskrisen ächzen, ist Bolivien noch immer ein seltener Hort von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum in Südamerika. Seit dem Amtsantritt von Präsident Evo Morales vor mehr als zwölf Jahren ist die Armutsrate im ärmsten Land Südamerikas stetig zurückgegangen. Dazu trugen eine steigende Erdgasförderung bei, sowie hohe Preise für Gas und andere Bodenschätze, die in Bolivien abgebaut werden.

Doch Morales' Wirtschaftsmodell steht Experten zufolge vor großen Herausforderungen. Dazu zählen eine wachsende Verschuldung, schwindende Rücklagen und ein Verfall der Währungen der wichtigsten Handelspartner des Landes. Manche Bolivianer spüren die Folgen bereits.

In den vergangenen Jahren schlossen laut der Vereinigung von Mikro- und Kleinunternehmen in Bolivien etwa 45.000 Werkstätten von Handwerkern. Die Vereinigung schätzt den Verlust in ihrem Sektor auf jährlich mehr als zwei Milliarden Dollar (1,8 Milliarden Euro), was etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) entspricht.

Tausende Handwerker und andere Arbeiter wechselten den Beruf und wandten sich dem Handel zu, da der Verkauf von importierter Elektronik und anderen Waren aus China einträglicher wurde. Die Zahl der Menschen, die in der informellen Wirtschaft arbeiten, stieg auf etwa 50 Prozent, eine der höchsten Raten in der Region. Die Großindustrie klagt ebenfalls über einen Abschwung in den ersten Monaten dieses Jahres, besonders betroffen war die Agrarbranche. Und auch die Gasexporte brächten weniger ein, sagt Hugo Siles, ein Wirtschaftsexperte der Nationalen Industriekammer.

Der linksgerichtete Präsident Evo Morales hat dafür gesorgt, dass der Wohlstand in Bolivien breite Bevölkerungsschichten erreicht. Quelle: imago images

Hauptabnehmer des bolivianischen Gases sind die Nachbarländer Argentinien und Brasilien. Doch die Argentinier leiden unter einer Rezession, einem starken Kursverlust ihrer Währung und hoher Inflation. Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro hat nach seinem deutlichen Wahlsieg im vergangenen Jahr Mühe, seine Agenda voranzubringen, und hat ebenfalls mit einem Wertverlust der Währung zu kämpfen. Die Abwertung des Pesos und des Reals habe dazu geführt, dass beide Länder mit ihren Exporten wettbewerbsfähiger seien, sagt Experte Siles. „Bolivien hat seit acht Jahren einen festen und stabilen Wechselkurs gegenüber dem Dollar. Das bedeutet, dass Branchen mit einem hohen Anteil inländischer Investitionen von Importen und Schmuggelware betroffen sind.“

Seit der Boom der Rohstoffpreise vor sechs Jahren endete, steigt der Fehlbetrag im Staatshaushalt. Im vergangenen Jahr lag er bei sieben Prozent des BIP. Dies, geringe private Investitionen, ein deutlicher Rückgang der Währungsreserven, der Anstieg der Staatsverschuldung und die wirtschaftliche Abhängigkeit von Rohstoffen führten zu Spannungen in der bolivianischen Wirtschaftspolitik, sagt Juan Pablo Bohoslavsky, unabhängiger Experte der UN für die Auswirkungen von Auslandsschulden auf die Menschenrechte. „Der festgelegte Wechselkurs zur Kontrolle der Inflation führt zu einem Anstieg der Importpreise und einem wachsenden Defizit in der Zahlungsbilanz“, erklärt Bohoslavsky.

Die Auslandsschulden Boliviens stiegen im März auf zehn Milliarden Dollar, etwa 25 Prozent des BIP. Doch Zentralbankpräsident Pablo Ramos verwarf die Möglichkeit einer Währungsabwertung. „Die Kaufkraft hängt vom Preisniveau ab. Wir haben eine niedrige Inflation (2019 etwa 0,6 Prozent)“, erklärte Ramos der Nachrichtenagentur AP. „Diese Preisstabilität garantiert Kaufkraft, und wir müssen sie bewahren.“

Präsident Morales sagte vor einigen Monaten, die Wirtschaft sei „abgeschirmt“. Doch sein Wirtschaftsminister Luis Arce räumte kürzlich ein, dass die Krise in Brasilien auch Auswirkungen auf Bolivien haben werde. Die Ausfuhren dorthin sind bereits zurückgegangen, unter anderem wegen geringerer Nachfrage. Offiziellen Angaben zufolge sanken die Exporte von einem Spitzenwert von täglich 31 Millionen Kubikmeter Erdgas 2014 auf täglich 23,8 Millionen 2017.

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Doch die bolivianische Regierung gibt sich optimistisch und setzt auf Kontinuität. Seit Morales' Amtsantritt 2006 wuchs die Wirtschaft im Schnitt jährlich um 4,5 Prozent, deutlich mehr als im Rest der Region. Der Internationale Währungsfonds erwartet für dieses Jahr vier Prozent Wachstum. Experten warnen jedoch, dass dieses Wachstum von Rücklagen und Krediten aus China abhänge, während die 2014 erreichten Währungsreserven von 15,1 Milliarden Dollar bis vergangenen März auf acht Milliarden schrumpften.

Präsident Morales wird angerechnet, mit seiner pragmatischen Wirtschaftspolitik dafür gesorgt zu haben, dass der Wohlstand aus Erdgas- und Rohstoffvorkommen breite Bevölkerungsschichten erreichte. Der erste indigene Präsident Boliviens ist aktuell einer von nur noch wenigen linksgerichteten Staats- und Regierungschefs in Südamerika. Zuletzt büßte er aber an Unterstützung ein, Hintergrund sind Vorwürfe der Manipulation des Justizsystems, Korruptionsskandale und sein Beharren, bei der Wahl am 20. Oktober für eine vierte Amtszeit antreten zu wollen.

Er warnt vor Chaos, sollte er nicht wiedergewählt werden. Die erreichte Stabilität könne verloren gehen, wirtschaftliche Turbulenzen unter dem Einfluss internationaler Organisationen könnten zurückkehren: „Früher bestimmten die Weltbank und der Internationale Währungsfonds das wirtschaftliche Schicksal Boliviens“, schrieb Morales kürzlich auf Twitter. „Heute entscheidet unser Volk selbst über seine Zukunft.“

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