Brasilien Martin Schulz besucht ehemaligen Staatschef Lula im Gefängnis

Ein weltbekannter Häftling führt in Brasilien von seiner Zelle aus Wahlkampf und spaltet sein Land. Nun hat Ex-SPD-Chef Martin Schulz ihn besucht.

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Brasilien: Martin Schulz besucht Ex-Staatschef Lula im Gefängnis Quelle: dpa

Curitiba Im Eingang des Gefängnisses hängt eine kleine Messingtafel. Martin Schulz übersieht sie beim Reingehen. An der Pforte zeigt er seinen Pass, geht durch ein Drehkreuz und fährt mit dem Aufzug in den vierten Stock zum wohl bekanntesten Häftling der Welt.

Auf der Messingtafel steht, dass das Gebäude der „Superintendencia Regional“ im Februar 2007 von Brasiliens damaligem Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva eröffnet worden ist. Nun sitzt Lula ausgerechnet in diesem Gebäude selbst ein.

Am 146. Tag der Haft kommt der bisher bekannteste Besucher aus Europa in das südbrasilianische Curitiba, der frühere SPD-Chef, Kanzlerkandidat und Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz.

Er nennt Lula einen Freund. Und sieht das Verfahren gegen ihn als höchst zweifelhaft an. Deutsche Diplomaten, die das über 200 Seiten lange Urteil zu 12 Jahren Haft studiert haben, sehen durchaus Indizien, zudem habe Lula eine mögliche Verantwortung auf seine verstorbene Frau abgeschoben.

Es geht um ein Apartment am Atlantik, das ein Baukonzern für eine Million Dollar modernisierte, angeblich als Geschenk für Hilfen bei Auftragsvergaben – Lula sagt, ihm gehöre die Immobilie gar nicht. Nach der Amtsenthebung von Präsidentin Dilma Rousseff sieht die linke Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) hier den nächsten Putsch, dieses Mal einen juristischen.

Die Strafe ist in der Tat ungewöhnlich hoch. Entlastungszeugen wurden plötzlich zu Belastungszeugen und die amtierende Regierung um den konservativen Präsidenten Michel Temer sieht sich zum Teil weit heftigeren Vorwürfen ausgesetzt, weshalb Lulas Leute eine politische Zwei-Klassen-Justiz am Werk sehen.

Eigentlich ist es ein Quartier der Bundespolizei, in dem meist nur Untersuchungshäftlinge sitzen. Der 72 Jahre alte Lula hat ein 15-Quadratmeter-Zimmer mit Tisch, vier Stühlen, Bett, Garderobe und Fernseher – aber ohne Kabel-TV. Dazu ein Bad, keine Gitterstäbe vor dem Fenster – in Südamerika gibt es auch schlechtere Haftbedingungen. Von hier führt Lula einen ungewöhnlichen Wahlkampf.

Umfragen sehen ihn bei knapp 40 Prozent für die Präsidentschaftswahl am 7. Oktober. Er will Brasilien nach dem Absturz wieder zu alter Größe führen.

In seiner Amtszeit von 2003 bis 2010 sprudelte der Ölpreis, Lula wurde in Davos von den Wirtschaftsgrößen gefeiert, der frühere Schuhputzer begeisterte die Welt mit linker pragmatischer Politik, Millionen Menschen wurden mit Programmen wie Bolsa Familia oder Minha Casa aus der Armut geholt und bekamen würdige Häuser. Das haben ihm viele nicht vergessen – und halten ihm daher die Treue, aber das Denkmal Lula ist ziemlich gebröckelt.

Denn in seiner Amtszeit entstand auch ein fast alle Parteien umfassendes Korruptionsnetzwerk bei Auftragsvergaben – dessen Folgen im Lava-Jato-Skandal mit hunderten Anklagen gipfelten.

Bis Mitte September soll eine Entscheidung fallen, ob Lula doch noch antreten darf – die PT-Chefin Gleisi Hoffmann dankt Schulz für die Solidarität – man will mit den Besuchen Druck aufbauen. „Brasilien ist das einzige Land in der Welt, wo ein Gefängnis in einer Provinzhauptstadt mehr international hochrangige Besucher sieht, als der Präsidentenpalast“, sagt Lulas früherer Außenminister Celso Amorim mit Blick auf Lula und Präsident Temer, der kaum Besuch von Staatschefs bekommt.

Vor der Tür sitzen zwei Polizisten, Lula schreibt Schulz ein paar Gedanken auf liniertes Papier – man wolle ihn als Präsidenten verhindern. „Ich zähle auf die Solidarität des deutschen Volkes.“

Zumindest auf die von Schulz und der SPD kann er zählen, auch wenn in dem von Heiko Maas (SPD) geführten Auswärtigen Amt nicht alle glücklich sind über die Überraschungsvisite. Ein brasilianisches Portal spricht vom „lider alemão“, „dem deutschen Führer“, der Lula besuche, das trifft es nicht ganz. Einige Bürger in Curitiba äußern Kritik an der Visite. Einmischung in innere Angelegenheiten?

Schulz betont: „Keine Macht der Welt kann mich daran hindern, einen Mann zu besuchen, dem ich vertraue und glaube.“ Auch andere Politiker, wie Kolumbiens Ex-Präsident Ernesto Samper und Uruguays José Mujica seien hier gewesen, zudem habe das UN-Menschenrechtssekretariat gefordert, Lula antreten zu lassen, da noch Berufungsinstanzen ausstehen.

SPD-Chefin Andrea Nahles habe ihn um den Lula-Besuch gebeten, betont Schulz – die SPD hat seit Jahrzehnten enge Bindungen zur PT.

Schulz denkt in großen Linien, das sei eine Schicksalswahl: Kippt auch Brasilien, der Gigant in Südamerika, nach rechts? Denn wenn Lula nicht antreten darf, könnte der „Trump Brasiliens“, Jair Bolsonaro, gewinnen. „Bolsonaro ist ein offener rechter Extremist, der mit einer Militärdiktatur liebäugelt“, sagt Schulz. Brasilien sei ökonomisch ein wichtiger Partner und habe zu Zeiten der PT-Regierungen die internationale Kooperation gestärkt, etwa auf UN-Ebene und beim Klimaschutz.

Nach dem 40-minütigen Besuch geht Schulz rüber zu zwei Handvoll Lula-Anhängern, die Wache im Campo „Lula livre“ (Camp „Freiheit für Lula“) halten. Sie haben das Revoluzzer-Konterfei von Che Guevara für Lula adaptiert, nennen ihn einen brasilianischen Nelson Mandela, einen „preso politico“, einen politischen Gefangenen.

Während sie da in ihren roten Hemden stehen und Richtung Gefängnis rufen: „Lula Guerrero do povo brasileiro“, „Lula, Du Krieger des brasilianischen Volkes“ – da wirkt Schulz etwas peinlich berührt. Als er immer wieder „Lula livre“ hört, reimt er darauf: „Cuba libre“.

Die Politik in Brasilien wirkt gerade wie eine Telenovela. Die PT setzt alles auf einen umstrittenen alten Helden im Gefängnis – der mögliche Ersatzkandidat Fernado Haddad ist mit Schulz bei Lula.

Wenn Lula hinter den Mauern bleiben musst, könnte der frühere Bürgermeister von São Paulo, Haddad, ins Rennen geschickt werden - in der Hoffnung, dass er viele Lula-Wähler für sich gewinnt und es in die Stichwahl Ende Oktober schafft. Ginge es dann gegen Bolsonaro, könnte er eventuell gewinnen.

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