Brasilien Mittelstand profitiert von Boom

Das anhaltende Wirtschaftswachstum verändert Brasiliens Gesicht: Besonders untere und mittlere Einkommensschichten profitieren von dem Boom.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Supermarkt in São Paulo: Quelle: AP

Bis vor Kurzem noch bot der Osten São Paulos einen traurigen Anblick: Die von italienischen Einwanderern errichteten Fabrikanlagen verfielen. Straßenhändler boten chinesische Schmuggelware aus Paraguay an. Die Slums wucherten. Und jeden Morgen ab fünf Uhr drängten sich in den Vorortzügen Putzfrauen, Köchinnen, Pförtner, Gärtner und sonstiges Dienstpersonal, das die Mittel- und Oberschicht im Westen und Süden São Paulos beschäftigte. Die Paulistanos aus den besseren Vierteln der Zwölf-Millionen-Einwohner-Metropole kamen nur noch dann in die Zona Leste, die Ostzone, wenn sie zum Flughafen wollten und die Stadtautobahnen wegen heftiger Regenfälle unpassierbar waren.

Das hat sich geändert: Zwar gibt es immer noch Straßenhändler und überfüllte Vorortzüge. Doch aus den einst heruntergekommenen Fabrikanlagen entstanden Discos, Shopping-Malls und auch Privat-Unis. Oder exklusive Auktionspaläste, in denen Unternehmer und Fernsehstars preisgekrönte Angus-Rinder und Araber-Pferde für Millionenbeträge ersteigern. Zig Baukräne sind am Horizont zu sehen: Sie ziehen Hochhaussiedlungen mit klangvollen Namen wie „Champs Elysées“ oder „Château de Versailles“ hoch. Umgerechnet 150.000 Euro kosten Drei-Zimmer-Appartements in Gegenden, in denen vor Kurzem noch Blechhütten standen. In den neuen Shopping-Centern der einstmaligen Peripherie werden Luxusartikel angeboten, direkt neben den Sportläden mit Importware, in denen die Rapper der Ostzone ihre Sneakers kaufen.

Brasiliens anhaltendes Wirtschaftswachstum verändert Land und Gesellschaft im Eiltempo: Wenn Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Mai zum Auftakt ihrer Lateinamerika-Reise in Brasilien eintrifft, kommt sie in ein Land, das mit dem Image des ewig kriselnden Riesen nur noch wenig übereinstimmt. Denn infolge des weltweiten Rohstoffbooms, insbesondere der steigenden Nachfrage nach Erz und Zucker, Soja und Rindfleisch, erlebt Brasilien ein gewaltiges Binnenwachstum. Nach einer Untersuchung der Marktforscher Bain & Company und Euromonitor werden Brasiliens Konsumenten ihre Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen in den nächsten fünf Jahren ebenso stark steigern wie die in den USA und China.

Mit überraschenden Folgen: Hatten noch in den Neunzigerjahren rund sieben Millionen Brasilianer den sozialen Abstieg erlebt, wächst die Mittelschicht jetzt wieder. Dazu zählen in Brasilien Familien ab einem Monatseinkommen von umgerechnet 400 Euro. Rund 120 Millionen von insgesamt knapp 190 Millionen Brasilianern gehören inzwischen zu dieser Gruppe. Nach einer Untersuchung des Marktforschers Ipsos sind allein in den vergangenen zwei Jahren 23 Millionen Brasilianer hinzugekommen. „Das Wachstum der brasilianischen Mittelschicht wird noch weiter zunehmen“, prognostiziert der amerikanische Trendforscher John Naisbitt.

Brasiliens Konsumboom wurde möglich, weil die Wirtschaft des Landes seit 14 Jahren stabil geführt wird. Nach Währungsreformen, Wirtschaftsplänen und Hochinflation über drei Dekaden herrscht nun » wirtschaftspolitische Kontinuität an Brasiliens Regierungsspitze. Der ehemalige Schlosser und Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva sieht die Inflationsbekämpfung wie sein konservativer Vorgänger Cardoso als wichtigstes Ziel der Geldpolitik – und nahm dafür zeitweise die höchsten Leitzinsen weltweit in Kauf. Auch die Ratingagentur Standard & Poor’s sieht große Fortschritte.. Sie stufte die Bonität des Landes auf die Note BBB- herauf. Brasilien gilt damit erstmals als „guter Schuldner“.

So sind die Zinsen seit 2003 von 27 Prozent auf inzwischen 11,5 Prozent gesunken. Erstmals können die Brasilianer deswegen langlaufende Kredite aufnehmen, und die Banken reißen sich um das Geschäft mit Krediten. Nicht nur Waschmaschinen und Autos stottern die Brasilianer ab. Sie bekommen von den Banken auch Geld, um Apartments und Häuser zu kaufen. Die Gefahr einer Überhitzung der Wirtschaft auf Pump besteht nicht: Trotz der starken Zuwächse betragen die Kredite nur rund 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Anders als in China, wo die Wachstumsraten seit Jahren bei rund zehn Prozent liegen, wächst Brasiliens Wirtschaft mit knapp vier Prozent in den vergangenen fünf Jahren zwar vergleichsweise mäßig. Doch das Wachstum übertrifft das der Bevölkerung, und so nimmt auch das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen stetig zu. Auch die Zahl der Arbeitsplätze wächst – um 2,5 Millionen pro Jahr. Statt Gelegenheitsjobs im informellen Sektor entstehen jetzt reguläre Arbeitsplätze, ausgestattet mit geregelten Arbeitszeiten und Urlaubsanspruch.

Daneben hat auch das Sozialhilfeprogramm „Bolsa Familia“, das armen Familien Zuschüsse gewährt wenn sie ihre Kinder zur Schule schicken, die Kaufkraft der unteren Bevölkerungsschichten erhöht. Von Tütensuppen über Lippenstifte, Mobiltelefonen, Breitband-Internet-Anschlüsse bis zu Spielzeug, Jeans und Restaurantbesuchen: 70 Prozent des gesamten Konsums entfällt auf brasilianische Familien, die weniger als 1400 Euro im Monat zur Verfügung haben, hat die Unternehmensberatung McKinsey in São Paulo festgestellt.

Zusätzlich profitiert Brasilien von einem demografischen Bonus: Denn nicht nur die Beschäftigungsquote wächst, gleichzeitig werden die Brasilianer auch immer älter. „30 Millionen produktive Menschen werden bis 2040 zusätzlich auf den Arbeitsmarkt strömen“, sagt José Eustáquio Diniz Alonso vom Statistikamt IBGE voraus. „Schon allein deshalb wird der Konsum stark zunehmen.“

Bruttoinlandsprodukt und Binnennachfrage in Brasilien, (jährliche Veränderung in Prozent)

Viele Unternehmen – vor allem ausländische Konzerne – stellt der Nachfrageboom vor besondere Herausforderungen: Bisher hatten Unternehmen wie Johnson & Johnson, Carrefour oder Electrolux vor allem die wohlhabenden Konsumenten Brasiliens im Fokus. Doch deren Konsum wächst deutlich langsamer als die Kauffreude der neuen sozialen Aufsteiger. Immer mehr Konzerne erforschen Konsumgewohnheiten in den Slums der Großstädte und im Nordosten Brasiliens. „Wir reden hier nicht mehr von einem Marktsegment, das ist der Markt“, sagt Nestlé-Chef Ivan Zurita. Für den Schweizer Lebensmittelkonzern ist der Nordosten Brasiliens inzwischen der am schnellsten wachsende Standort weltweit, Brasilien ist für Nestlé der zweitwichtigste Markt überhaupt.

Auch für deutsche Unternehmen bietet der Wirtschaftsboom Brasiliens besondere Chancen: Denn in keinem anderen Land besetzt die deutsche Wirtschaft so viele Schlüsselpositionen in der Industrie. Das gilt nicht nur für den Autobau, wo Volkswagen, Daimler und Zulieferer wie Bosch überdurchschnittlich vom Wachstum profitieren. Auch Unternehmen aus der Chemie, Pharma, Energie und dem Maschinenbau sind wichtige Zulieferer der brasilianischen Wirtschaft. BASF und Bayer etwa beliefern den boomenden Agrarsektor mit Pflanzenschutzmitteln.

Für das Land mit den weltweit höchsten Einkommensgegensätzen sind steigende Kaufkraft und wachsende Aufstiegschancen auch politisch wichtig: „Die neue soziale Dynamik ist ein historischer Schritt für Brasilien“, sagt der Politologe Fabio Wanderley Reis. Die neue Mittelschicht weiß, dass sie ihren Aufstieg der politischen und ökonomischen Stabilität zu verdanken hat. Ein nicht zu unterschätzender Faktor für die Zukunft des Landes: Denn je besser es weiten Teilen der Bevölkerung ergeht, desto weniger können in Brasilien populistische Parolen verfangen – wie die des venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%