Brasiliens Präsident Temer Völlig losgelöst

Brasilien steht vor einem Berg von Problemen. Das angeschlagene Land hätte eine starke Regierung bitter nötig. Doch die Entscheidungen des Präsidenten zeigen, dass er den Bezug zum Volk vollständig verloren hat.

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Der 75-jährige Michel Temer ist der Nachfolger von Dilma Rousseff, die wegen eines Korruptionsskandals ihr Amt als brasilianische Staatspräsidentin aufgeben musste. Quelle: Reuters

Rio de Janeiro Brasilien steckt in einer tiefen Rezession – doch ungeachtet dessen hielt es die Regierung von Präsident Michel Temer für angemessen, Lebensmittel im Wert von umgerechnet rund 400.000 Euro für dessen dienstliche Flugreisen 2017 zu bestellen. Darunter waren beispielsweise 500 Schachteln hochpreisige Häagen-Dazs-Eiscreme, Büffel-Mozzarella und fast 1,5 Tonnen Schokoladenkuchen. Als ein Aufschrei der Empörung durchs Land ging, wurde die Bestellung Stunden später rückgängig gemacht.

Die Ende Dezember veröffentlichte opulente Einkaufsliste war nur der jüngste einer ganzen Reihe von Schritten Temers, die jedes Gespür für die Nöte der Bevölkerung vermissen ließen. Einen Monat zuvor, nach dem Absturz eines Flugzeugs in Kolumbien, bei dem fast eine gesamte brasilianische Fußballmannschaft ums Leben kam, eilte Temer nicht etwa sofort an die Seite trauernder Angehöriger, um Trost zu spenden. Vielmehr debattierte er tagelang darüber, ob er wenigstens an der Trauerfeier für die Opfer teilnehmen sollte. All dies wirft die Frage auf, ob Temers ohnehin schwache Regierung das neue Jahr überstehen kann.

Die Fehltritte ließen die Umfragewerte für den 75-jährigen Karrierepolitiker auf etwa zehn Prozent abstürzen. Dabei bräuchte er eigentlich jede Unterstützung, um gegen Korruptionsvorwürfe anzugehen, die ihn nach weniger als einem Jahr an der Regierung aus dem Amt drängen könnten. Seine Vorgängerin Dilma Rousseff war über ein Amtsenthebungsverfahren gestürzt worden.

„Temers Team muss aus seiner Komfortzone kommen und sehen, was im Land geschieht“, sagt Carlos Manhanelli, Vorsitzender der Brasilianischen Vereinigung von Politikberatern. „Jemand hätte diese Einkaufsliste sehen müssen, bevor sie rausging.“

Denn Brasilien steht vor einem Berg von Problemen. Die Wirtschaft ist in den vergangenen beiden Jahren geschrumpft, und auch für 2017 wird kein Wachstum prognostiziert. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zwölf Prozent, die Inflation bei mehr als zehn Prozent. Täglich werden Stellenstreichungen verkündet, in den Straßen ist die Sorge der Menschen um ihre Zukunft fast greifbar. Die Bestellung teurer Schlemmereien der Regierung kam da besonders schlecht an.

Das größte unmittelbare Risiko für Temers Präsidentschaft geht von einem Verfahren des obersten Wahlgerichts aus, das eine mutmaßlich illegale Finanzierung des Wahlkampfs 2014 prüft. Damals trat Rousseff als Präsidentschaftskandidatin an, Temer war ihr Vize. Sollte das Gericht die damalige Kandidatur annullieren, könnte dies zu einer Neuwahl führen. Rousseff und Temer haben die Vorwürfe zurückgewiesen, und Temer hat bereits angekündigt, er sei bereit, eine Entscheidung „anzufechten, anzufechten und nochmal anzufechten“, um im Amt zu bleiben.


Temer muss den Bezug zu seinen Wählern finden

Ein Rücktritt Temers oder seine Absetzung könnte dem Land, das gerade erst die turbulente Amtsenthebung Rousseffs überstanden hat, neue Probleme bringen. Der Kongress könnte einen neuen Präsidenten einsetzen, der bis zum Ablauf der Legislaturperiode 2018 regiert, oder es könnte eine vorgezogene Wahl angesetzt werden. In Umfragen für die Präsidentenwahl 2018 führt der frühere Amtsinhaber Luíz Inácio Lula da Silva - gegen den selbst Korruptionsermittlungen laufen.

Hinzu kommen Ermittlungen zu einem weitreichenden Bestechungsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras. In den vergangenen zwei Jahren wurden im Zusammenhang damit bereits mehrere Spitzenpolitiker und Geschäftsleute inhaftiert. Einzelheiten über Prozessabsprachen früherer und aktueller Manager des Baukonzerns Odebrecht, eines der Hauptbeteiligten des Bestechungsskandals, dürften innerhalb der nächsten Monate veröffentlicht werden. Dann könnten wichtige Minister und sogar der Präsident selbst in den Fall hineingezogen werden.

„Die Korruptionsermittlungen um Petrobras könnten genau die Leute zu Fall bringen, die Temer ins Amt gebracht haben, und auch ihn hineinziehen“, sagt Claudio Couto, Professor für Politologie an der Universität Fundação Getúlio Vargas in São Paulo. „Und das Wahlgericht wird all das beobachten“, wenn es über die Vorwürfe zur Wahlkampffinanzierung entscheidet.

Temer setzt seine Hoffnungen auf eine wirtschaftliche Erholung, die auf einem Rückgang der Inflation und einer Wiederherstellung des Vertrauens in das Geschäftsklima basiert. Einige Erfolge kann er verzeichnen, wenngleich sie durch Kürzung von Subventionen auf Kosten niedriger Einkommensschichten gehen. Der Kongress billigte ein Gesetz, das Ausgabensteigerungen auf die Höhe der Inflationsrate begrenzt, und die Regierung scheint kurz vor einer Senkung der Zinssätze zu stehen, die zu den höchsten weltweit zählen und neue Investitionen behindern. Angesichts der Dringlichkeit der wirtschaftlichen Probleme könnte es Temer nach Ansicht von Analysten sogar gelingen, eine Rentenreform durchzusetzen, die in Brasilien bislang als unerreichbar galt.

Um seine Botschaft zu vermitteln, muss Temer allerdings auch endlich einen Bezug zu den Wählern finden. Als er im Mai die Regierungsgeschäfte übernahm, berief er ausschließlich weiße Männer in sein Kabinett. In einem Land, in dem sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung als afro-brasilianisch oder gemischter ethnischer Herkunft bezeichnet, kam das nicht gut an. Seither verlor er sechs Minister wegen Korruptionsskandalen. Und dann kam das Eiscreme-Debakel. In einer Zeit, in der alle den Gürtel enger schnallen müssen, symbolisiere dieser Beinahe-Kauf ein Ausmaß eines Mangels an Sensibilität, der auch etwas Kindliches habe, „so wie Kinder keinen Sinn für Maß halten haben“, schrieb der Kolumnist Luís Fernando Veríssimo in der Tageszeitung „O Globo“.

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