Brexit-Folgen Anti-Terror-Kampf droht herber Dämpfer

Der geplante EU-Austritt Großbritanniens könnte gravierende Konsequenzen für die Sicherheit in Europa haben. Experten warnen: Ohne die Briten wird der Anti-Terror-Kampf erheblich geschwächt.

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Großbritannien besetzt einige führende Positionen bei der EU-Polizeibehörde Europol. Mit dem Brexit müssen die Mitarbeiter wohl abgezogen werden. Quelle: AP

Berlin Erst im Frühjahr beschloss das Europaparlament, der EU-Polizeibehörde Europol im Kampf gegen grenzüberschreitende Kriminalität und Terrorismus deutlich mehr Befugnisse zu geben. Doch die Entscheidung Großbritanniens, aus der Europäischen Union auszutreten, könnte die internationale Polizeikooperation schon bald vor große Probleme stellen.

Der Grund: Europol muss künftig ohne die Briten auskommen, da die britische Regierung die neue vom EU-Parlament beschlossene Europol-Verordnung nicht anerkannt hat und angesichts des Brexit-Votums wohl auch ein Einlenken wenig wahrscheinlich ist. Sämtliche britischen Europol-Mitarbeiter müssen daher zum Inkrafttreten der Verordnung am 1. Mai 2017 von der Behörde abgezogen werden. Und auch der Datentausch mit Großbritannien muss eingestellt werden.

Aus Sicht der Bundesregierung kann die Europäische Kommission zwar „das Vereinigte Königreich ermutigen, die Europol-Verordnung (EU) 2016/794 anzunehmen, weil das Vereinigte Königreich aus der Zusammenarbeit und dem Informationsaustausch bei Europol Vorteile bei der Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und schwerer Kriminalität ziehen kann“, wie es in einer kürzlich veröffentlichten Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion heißt. Allerdings lägen bisher „keine Erkenntnisse“ darüber vor, dass auf EU-Ebene, wie von der Linksfraktion erfragt, „bereits mit Nachdruck nach Lösungen gesucht“ werde, um Großbritannien „nicht von der Europol-Bildfläche verschwinden zu lassen“.

Am 23. Juni hatten die Briten in einer historischen Volksabstimmung entschieden, die EU zu verlassen (Brexit). Auf mögliche Brexit-Folgen will die Bundesregierung auch deshalb nicht näher eingehen, weil Großbritannien, wie sie betont, bis zum Inkrafttreten des Austrittsabkommens nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrages beziehungsweise bis zum Ablauf der in Artikel 50 genannten 2-Jahres-Frist „volles Mitglied der Union mit allen Rechten und Pflichten“ sei. Vor einem Abschluss des Verfahrens und der Verhandlungen zum zukünftigen Status könne daher der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs „nicht abschließend bewertet“ werden.

Die Deutsche Polizeigewerkschaft warnt indes wegen des geplanten Brexits vor Sicherheitslücken im Anti-Terror-Kampf und fordert angesichts der aktuellen Bedrohungslage in ganz Europa von allen Verantwortlichen in Europa, die am Prozess der Brexit-Verhandlungen beteiligt seien, alles daran zu setzen, „dass es durch den Brexit weder in Großbritannien noch in allen anderen europäischen Staaten zu Informationsdefiziten im Sicherheitsbereich kommt“.


Union besorgt über mögliche Brexit-Folgen

Der Bundesvorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft und Vizechef der Deutschen Polizeigewerkschaft, Ernst G. Walter, sieht hierbei auch die Bundesregierung in der Pflicht. Er erwarte nicht nur einen verstärkten Einsatz für einen reibungslosen Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden in ganz Europa auch nach dem Brexit. Die Bundesregierung müsse außerdem „wesentlich aktiver als bisher“ dafür eintreten, „dass der Informationsaustausch in Sicherheitsfragen zwischen allen Staaten in Europa – ganz gleich ob EU-Mitglied oder nicht – nachhaltig beschleunigt und intensiviert wird“, sagte Walter dem Handelsblatt.

Die Sicherheitsbehörden in Deutschland, so Walter weiter, müssten zum Beispiel „endlich dazu in die Lage versetzt werden, nach terroristischen Anschlägen in Europa sofort ohne jede bürokratischen Hemmnisse auf alle sicherheitsrelevanten Informationen der beteiligten Europäischen Staaten zurückgreifen zu können, um unverzüglich wirksame Fahndungs- und Sicherungsmaßnahmen zum Schutz der Bevölkerung einzuleiten und umzusetzen“.

Walter betonte: „Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus und die zunehmende organisierte Kriminalität ist eine gemeinsame europäische Aufgabe, die auch nur gemeinschaftlich bewältigt werden kann.“

Der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter teilt die Sorgen der Polizeigewerkschaft „in vollem Umfang“. „Für das Aushandeln des Brexit wird es hilfreich sein, sicherheitspolitisch relevante und erhaltenswerte Vereinbarungen in einem gesonderten Abkommen mit Großbritannien zu bewahren“, sagte der Unions-Obmann im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages dem Handelsblatt.

Die Verhandlungen mit der britischen Regierung böten die Chance, die Vereinbarungen zwischen EU und Großbritannien so zu gestalten, dass sie auch für andere Drittstaaten wie Türkei, Tunesien oder Israel „attraktiv beziehungsweise modellhaft“ seien. „Gerade in sicherheits- und energiepolitischen Fragen kommt es darauf an, dass die EU gefragter Partner bleibt und sein Umfeld aktiv mitgestaltet“, so Kiesewetter.


Briten besetzen wichtige Führungspositionen bei Europol

Doch ohne Briten dürfte der Anti-Terror-Kampf deutlich schwieriger werden, zumal die personellen Veränderungen bei Europol bei einem Brexit erheblich wären. Derzeit stellt Großbritannien mit 61 entsandten Mitarbeitern nach Deutschland (63), Spanien (72) und den Niederlanden (251) den viertstärksten bei Europol vertretenen EU-Mitgliedstaat dar.

Britische Polizisten besetzen führende Positionen, mit Rob Wainwright stellen die Briten sogar den Direktor der Behörde. Rob Wainwright war vorher unter anderem für den Inlandsgeheimdienst MI5 tätig und arbeitete für den National Criminal Intelligence Service, wo er mit internationalen Operationen sowie einer britischen „Strategie gegen illegale Einwanderung“ befasst war.

Wainwright warnte denn auch im Fall eines Brexits vor massiven Sicherheitslücken. „Die Briten sind der stärkste Lieferant von Geheimdienstinformationen für die Datenbanken von Europol“, sagte der Behördenchef kürzlich der „Welt“. Damit könnte jedoch bei einem Brexit Schluss sein. Das legt auch ein Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages nahe. Danach dürften die Briten nach Verlassen der EU ihre Ermittlungserkenntnisse nicht mehr über die einschlägigen Datenbanken anderen EU-Mitgliedstaaten zur Verfügung stellen. Im Gegenzug dürften sie auch deren Daten nicht mehr nutzen.

Konkret geht es um die europaweite Fahndungsdatenbank Schengener Informationssystem (SIS II), auf das die Sicherheitsbehörden von 27 Schengen-Staaten sowie Europol, Eurojust und die nationalen Staatsanwaltschaften Zugriff haben. Großbritannien ist über eine spezielle Opt-in-Klausel eingebunden, die allerdings durch den Brexit keine Gültigkeit mehr hätte. „Die Beteiligung des Vereinigten Königreichs am SIS II, die derzeit auf der EU-Mitgliedschaft beruht, würde durch den Austritt beendet, wenn keine Übergangsregelungen vereinbart werden“, heißt es in der Expertise.

Zwar haben auch Nicht-EU-Mitglieder, etwa die Schweiz, Zugriff auf SIS II – allerdings nur, weil sie, anders als Großbritannien, dem Schengen-Raum angehören. Aus Sicht der Experten „erscheint es schwierig, das Vereinigte Königreich in das SIS II einzubinden, ohne dass zumindest eine Schengen-Mitgliedschaft besteht“.


Aufbrechen gewachsener Strukturen wäre unkalkulierbares Risiko

In der Folge müsste demnach das Vereinigte Königreich, um am Datenaustausch beteiligt zu sein, zum Beispiel mit Europol und der europäischen Justizbehörde Eurojust eigene Verträge zur Datenweitergabe aushandeln, was allerdings aus Sicht der Juristen neue Schwierigkeiten nach sich ziehen könnte. „Abgesehen von der zeitlichen Dauer, die solche Verhandlungen benötigen, würde sich möglicherweise auch der Nachteil ergeben, dass das Vereinigte Königreich als Drittstaat nicht mehr direkt zum Beispiel im Europol-Informations-System nach Daten suchen könnte, sondern dies über Europol abwickeln müsste“, heißt es in dem Gutachten.

Beim Zugang zu anderen Datenbanken ergäben sich ähnliche Probleme, schreiben die Experten weiter. So stehe der Zugang zur Eurodac-Datenbank mit Fingerabdruckdaten derzeit nur EU-Mitgliedstaaten oder Dublin-Staaten wie zum Beispiel Norwegen offen. „Ein Zugang zu dieser Datenbank könnte erfordern, Dublin-Staat zu werden, was aber im Falle des Vereinigten Königreichs unwahrscheinlich ist.“

Dass Großbritannien ein wichtiger Partner für Europol ist, zeigt auch ein Blick auf die Zahlen. Rund ein Drittel aller Ermittlungsfälle gingen laut Wainwright auf Hinweise der britischen Behörden zurück. Londons Beitrag zur europäischen Polizeiarbeit habe seit 2014 um 50 Prozent pro Jahr zugenommen.

Laut „Welt“ überstellten die Briten zwischen April 2010 und März 2015 mehr als 5000 mutmaßliche Kriminelle an andere EU-Staaten, von denen nur vier Prozent Briten waren. Im Gegenzug hätten die EU-Partner 655 Verdächtige an Großbritannien übergeben, 57 Prozent von ihnen britische Staatsbürger.

Wie aus der Antwort der Bundesregierung auf die Linken-Anfrage zudem hervorgeht, sind im vergangenen Jahr mehr als 2.000 grenzüberschreitende Ermittlungen von britischen Europol-Beamten initiiert worden. Ewa 40 Prozent aller bei Europol bearbeiteten Fälle hätten laut einem Europol-Sprecher eine „britische Dimension“.

Auch Deutschland sieht in Großbritannien nach Aussage von Europol-Chef Wainwright einen wichtigen Sicherheitspartner. „Die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten über Europol, gemeinsam mit Großbritannien als verlässlichem EU-Partner, wurde mir auch durch meine regelmäßigen Kontakte mit dem Präsidenten des Bundeskriminalamtes, Holger Münch, immer wieder vor Augen geführt“, schreib Wainwright jüngst in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der BKA-Präsident teile daher seine Auffassung, dass auf operativer Ebene – speziell in der Terrorismusbekämpfung – als direkte Folge des Brexit „eine gefährliche Sicherheitslücke entstehen würde“.

Es gebe zwar britische Stimmen, die behaupteten, dass die Erfolge im Anti-Terror-Kampf auch ohne eine Mitgliedschaft Großbritanniens in der EU bewahrt werden könnten, erklärte Wainwright. „Aber das Aufbrechen einer gewachsenen Gesetzgebung, technischer Expertise, internationaler Beziehungen und polizeilichen Fachwissens, die über Jahre gewachsen sind, ist ein unkalkulierbares Risiko – sowohl für das Vereinigte Königreich als auch für Deutschland und die anderen EU-Staaten.“ Insbesondere angesichts des Ausmaßes der Bedrohungen, mit denen die Europäer derzeit konfrontiert seien, und auch angesichts der zunehmend begrenzten Ressourcen der europäischen Strafverfolgungsbehörden.

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