Brexit-Rede May gibt erstmals Brexit-Nachteile zu – will EU-Austritt aber trotzdem durchziehen

Beim Thema Brexit gibt sich die Premierministerin realistischer: Die Briten müssten „harte Fakten“ akzeptieren. Doch in einer Frage geht die Träumerei weiter.

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Premierministerin Theresa May verlässt nach ihrer Ansprache zum Brexit das Rednerpult. Quelle: Reuters

London Die britische Premierministerin hat erstmals eingeräumt, dass der Ausstieg aus der Europäischen Union Nachteile mit sich bringt. „Wir alle müssen einige harte Fakten akzeptieren“, sagte Theresa May am Freitag in ihrer dritten großen Brexit-Rede in London. „Wir verlassen den Binnenmarkt, das Leben wird anders sein. Der Zugang zu den Märkten auf beiden Seiten wird geringer sein als bisher“.

Dennoch will sie den Brexit durchziehen. Auf die Frage des Handelsblatts, ob der Brexit die Nachteile wert sei, sagte die Premierministerin: „Soll das heißen, ob wir noch einmal drüber nachdenken? Nein.“ Sie habe einen Auftrag vom Volk erhalten, den werde sie umsetzen.

Die Europäer erwarteten von ihrer dritten Brexit-Rede endlich Details, wie sie sich die künftige Handelsbeziehung mit der EU vorstellt.

In den vergangenen Tagen hatte May sich in vielen Sitzungen mit ihrem Kabinett abgestimmt, um einen Konsens zwischen den zerstrittenen Brexit-Lagern zu erzielen. May erklärte, ein neues Handelsabkommen müsse „fünf Tests“ bestehen, bevor sie es unterzeichnen könne. Beobachter fühlten sich an den Trick des früheren Finanzministers Gordon Brown erinnert, der mit fünf Tests den Beitritt Großbritanniens zum Euro verhinderte.

Die Bedingungen für den Brexit-Deal lassen May einigen Interpretationsspielraum:

1. Großbritannien muss Kontrolle über seine Finanzen, Gesetze und Grenzen haben.

2. Das Abkommen muss nachhaltig sein.

3. Der Deal muss Arbeitsplätze sichern.

4. Er muss britische Werte wie Weltoffenheit und Verlässlichkeit transportieren.

5. Er muss das Vereinigte Königreich zusammenhalten.

So ähnlich hatte sie ihre Ziele auch schon in der Vergangenheit formuliert. Sie warb für eine Vereinbarung, die „so umfassend und tiefgreifend wie möglich“ sein soll und die auf mehr Branchen und weitergehende Kooperationen abziele „als jedes andere Freihandelsabkommen, das es derzeit auf dieser Welt gibt“.

In einigen Branchen wie dem Automobilsektor, der Pharma- und der Luftfahrtbranche will Großbritannien auch nach dem Brexit sämtliche EU-Regeln wie Produktstandards und Subventionsvorschriften anerkennen. Diese Bereiche machen einen Großteil der britischen Industrie aus, mehr als 800.000 Arbeitsplätze hängen allein an der Automobilindustrie.

Beide Seiten hätten ein Interesse daran, die Lieferketten zu behalten, sagte May. Der Handel müsse so reibungslos wie möglich funktionieren. Dabei werde auch der Europäische Gerichtshof eine Rolle spielen, er könne aber nicht die letzte Instanz sein. Man brauche eine unabhängige Schlichtungsstelle.

Rund 80 Prozent der britischen Wirtschaftsleistung werden durch Dienstleistungen erzielt, die in herkömmlichen Freihandelsabkommen nicht abgedeckt sind. In diesem Bereich habe man die Gelegenheit, Neuland zu betreten, sagte May.

Man habe sich damit abgefunden, dass der Finanzsektor den EU-Pass verlieren werde. Man wolle aber ein Abkommen gegenseitiger Anerkennung. So sollen die EU und Großbritannien ihre Vorschriften und Aufsichtsbehörden als gleichwertig anerkennen. Finanzminister Philip Hammond werde kommende Woche im Detail dazu reden.

Das Gleiche gelte für die Rundfunkbranche, sagte May. 30 Prozent der Fernsehprogramme auf dem Kontinent kämen aus Großbritannien. „Europäische Kunden mögen britische Programme“, sagte die Premierministerin. Auch hier solle man sich auf gegenseitige Anerkennung verständigen.

Die britische Vorstellung, nur selektiv am Binnenmarkt teilzunehmen, wird von den Europäern bisher als Rosinenpickerei abgelehnt. EU-Chefunterhändler Michel Barnier hatte vor Mays Rede noch einmal bekräftigt, dass der bevorzugte Binnenmarktzugang für einzelne Branchen unrealistisch sei. Wenn Großbritannien nicht den Europäischen Gerichtshof anerkenne, könne es auch keine gegenseitige Anerkennung von Standards geben, hatte der Franzose erklärt.

Auch EU-Ratspräsident Donald Tusk hatte am Donnerstag bei einem Besuch in der Downing Street May gewarnt, dass er „nicht glücklich“ über ihre roten Linien sei. Es gebe keinen reibungslosen Handel außerhalb des Binnenmarkts und der Zollunion, hatte er bekräftigt. „Reibung ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt des Brexit.“

Scheinbar unbeeindruckt hielt May an ihren roten Linien fest: Der Ausstieg aus Binnenmarkt und Zollunion steht nicht zur Debatte. Doch wurde deutlich, dass sie innerhalb dieser Parameter den weichestmöglichen Brexit anstrebt.

Sie appellierte an die Europäer, ihr entgegenzukommen. „Wir müssen uns beide eingestehen, dass dies eine Verhandlung ist, und keiner alles bekommen kann, was er will.“ Man müsse über die bisherigen Modelle hinausschauen und ein „neues Gleichgewicht“ finden.

Für das Dilemma der irischen Grenze hatte May jedoch keine neue Lösung anzubieten. Während sich Labour-Chef Jeremy Corbyn und eine wachsende Zahl an Tory-Rebellen für eine neue Zollunion aussprechen, um eine harte Grenze in Irland zu vermeiden, blieb May bei ihrer Linie. Eine Zollunion komme nicht infrage, weil Großbritannien dann keine unabhängige Handelspolitik treiben könne, sagte sie.

Man brauche ein anderes „Zoll-Arrangement“. Sie schlug erneut unsichtbare Grenzkontrollen mittels IT vor, um physische Infrastruktur in Irland zu vermeiden. Großbritannien habe eine Verantwortung, dieses Problem zu lösen, räumte sie ein, aber das gelte auch für die EU. Über die Umsetzung werde man in einer Arbeitsgruppe mit der irischen Regierung und der EU-Kommission reden.

Mehrfach kritisierte May die Unbeweglichkeit der Europäer. Sie wehrte sich gegen den Vorwurf der Rosinenpickerei. Jedes Freihandelsabkommen lege unterschiedlich hohen Zugang zu unterschiedlichen Märkten fest, sagte May. „Wenn das Rosinenpickerei ist, ist jedes Freihandelsabkommen Rosinenpickerei“.

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