Brexit Zerstritten, überlastet, planlos

Vereint in Planlosigkeit und Streit: Ein internes Dokument geht mit der britischen Regierung bei der Brexit-Organisation hart ins Gericht. Der EU-Austritt könne sich deshalb weiter verzögern.

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In Sachen Brexit-Planung herrscht in der britischen Regierung einem internen Memo zufolge Chaos. Quelle: Reuters

London Das Dokument liest sich wie eine schonungslose Beschreibung des puren Chaos: „Jedes Ressort hat zwar einen Plan, wie man mit dem schlimmsten Fall in Sachen Brexit umgehen kann“, schreibt der Autor, aber es gebe keine Prioritäten und keine Verbindung zur Gesamtstrategie der Regierung. Und weiter: Das britische Kabinett sei in der Brexit-Frage gespalten, daher könnte es weitere sechs Monate dauern, bis eine Einigung gefunden ist – und bis zu 30.000 zusätzliche Beamte, um mit der Arbeitslast fertig zu werden.

Der Autor dieser Zeilen ist offenbar ein externer Regierungsberater. Die britische Tageszeitung „The Times“ und die BBC haben am Dienstag diese Kritikpunkte aus einem internen Memo des Beraters vom 7. November zitiert, das jetzt, knapp eine Woche später, durchgesickert ist. Es enthält auch Kritik am Regierungsstil von Premierministerin Theresa May: Ihre Tendenz, Entscheidungen an sich zu ziehen und auch Details selbst zu regeln, könne eigentlich nicht aufrechterhalten werden. Höherrangige Beamten müssten eingreifen, heißt es in dem Memo.

Die Regierung wehrt sich gegen die Kritik. Man kenne die Aussagen dieses Dokuments nicht, sagte ein Sprecher. Das Papier sei nicht angefordert worden und habe keine Legitimation. Auch Transportminister Chris Grayling hält die Vorwürfe des Beraters für ungerechtfertigt. Er habe in der Vorbereitung des Brexit durch die Regierung ganz andere Erfahrungen gemacht als die, die in dem Memo beschrieben seien, sagte er in einem BBC-Interview. Die Verhandlungen über den EU-Austritt würden komplex, räumte Grayling ein, aber bei weitem nicht eine so große Herausforderung wie in der „Times“ beschrieben.

Nach bisherigen Plänen will Premierministerin May den offiziellen Austritt nach Artikel 50 des Vertrages von Lissabon bis Ende März 2017 in Gang setzen. Sie hält daran fest, obwohl ein Gerichtsurteil das Verfahren verkomplizieren und verzögern könnte. Ein hohes britisches Gericht hatte Anfang November entschieden, dass May einen Parlamentsbeschluss braucht und die offiziellen Abschiedsverhandlungen aus Europa nicht im Alleingang starten kann.

Die Regierung hat angekündigt, das Urteil anzufechten und damit vor den Obersten Gerichtshof zu ziehen, eine Anhörung dort ist für die erste Dezemberhälfte angesetzt. Mit einer Entscheidung rechnen Beobachter aber erst Anfang nächsten Jahres.

Sollte der Supreme Court das Urteil von Anfang November bestätigen, könnten die mehrheitlich EU-freundlichen Parlamentarier die Brexit-Forderungen von May, mit denen sie in die Verhandlungen mit der EU ziehen will, stärker beeinflussen und Bedingungen daran knüpfen. So haben Abgeordnete der liberaldemokratischen Partei bereits deutlich gemacht, dass sie ein zweites Referendum über die genauen Konditionen des Austritts fordern. Sollte die Regierung sich darauf nicht einlassen, würde man May die Zustimmung, Artikel 50 auszulösen, verweigern.


Wirtschaftliche Überlegungen für May weniger wichtig?

Auch einige Abgeordnete der oppositionellen Labour-Partei haben dies in Aussicht gestellt. Unterm Strich gehen Experten aber davon aus, dass May die notwendige Parlamentsmehrheit bekommt. „Aus Angst vor einer äußerst aggressiven Reaktion der Brexit-Befürworter in der Bevölkerung dürften die meisten Abgeordneten May grünes Licht geben“, sagt ein politischer Beobachter.

Ende Juni hatten 52 Prozent der Briten in einem Referendum für einen Abschied aus der EU gestimmt. Die Details sind aber unklar – etwa ob ein Brexit auch mit einem Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion einhergeht. Große Teile der britischen Wirtschaft plädieren dafür, den vollen Zugang zum Binnenmarkt zu behalten. Medienberichten zufolge macht sich auch Finanzminister Philip Hammond dafür stark.

Lautstarke EU-Kritiker im Kabinett wie Brexit-Minister David Davis und Handelsminister Liam Fox verfolgen dagegen offenbar andere Ziele – und plädieren für einen radikaleren Abschied aus dem Projekt Europa. May hat bisher angedeutet, dass für sie Zuwanderungskontrollen Priorität hätten und sie dafür die wirtschaftlichen Vorteile der EU-Zugehörigkeit zu opfern bereit sei.

In dem Berater-Dokument, das britische Medien jetzt auszugsweise veröffentlicht haben, heißt es dazu: Es sei Mays Priorität, ihre Tory-Partei zusammenzuhalten. Wirtschaftliche Überlegungen seien für sie nicht vorrangig. Auf die Wirtschaft kämen zwei unangenehme Erkenntnisse zu, schreibt der Autor. Erstens sei es wichtiger für die Regierung, das eigene politische Überleben zu sichern und nicht die Interessen der Wirtschaft. Und zweitens werde es auf absehbare Zeit keine klare wirtschaftliche Strategie in Sachen Brexit geben, sondern Entscheidungen würden von Fall zu Fall getroffen.

Davon hat bisher der japanische Autobauer Nissan profitiert. Die Regierung hat hinter verschlossen Türen offenbar zugesagt, den Konzern vor Nachteilen des EU-Austritts zu schützen. Nissan hat daraufhin entschieden, sein Autowerk im strukturschwachen Nordosten Englands auszubauen und nicht zu verlagern.

Nach Einschätzung des Beraters, aus dessen Memo britischen Medien zitieren, dürfte es jetzt ähnliche Forderungen von anderen wichtigen Unternehmen geben. Sie würden der „Regierung die Pistole auf die Brust setzen“, heißt es, um Zusagen wie jene für Nissan zu bekommen.

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