Britische Regierung in der Kritik Vor dem Siedepunkt

Am Montag beginnen die Brexit-Gespräche zwischen Großbritannien und der EU. Die britische Regierung geht geschwächt in die Verhandlungen. Premierministerin May wirkt in dem Chaos auf der Insel schlicht überfordert.

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Die britische Premierministerin steckt in der zweiten Krisensituation innerhalb von gut einer Woche. Quelle: AP

London Sie hatte nicht nur einmal die Gelegenheit, einen Fehler einzugestehen. Endlich einzuräumen, dass etwas dramatisch schief gegangen ist und sie dafür geradestehen wird. Doch Großbritanniens Premierministerin Theresa May hat diese Möglichkeiten nicht genutzt. In einem Fernsehinterview am Freitagabend ist sie allen Nachfragen ausgewichen. Die Öffentlichkeit wolle hören, dass etwas falsch gelaufen sei und die Regierung nach dem verheerenden Hochhausbrand im Westen Londons die Verantwortung dafür übernehmen werde, sagte die Interviewerin irgendwann und gab May eine neue Vorlage. Doch die Regierungschefin vermied es wieder, direkt darauf zu antworten und sagte nur: „Etwas Schreckliches ist passiert.“

May, seit ihrem Wahldesaster vor gut einer Woche bereits eine geschwächte Premierministerin auf Abruf, hat damit neue Kritik auf sich gezogen – und den Zorn der Opfer der Brandkatastrophe. Erst nach öffentlichen Druck hatte sie sich am Freitag mit den Überlebenden und Anwohnern getroffen, nachdem sie zuvor nur die Rettungskräfte besucht hatte. Nach der Begegnung mit den Opfern riefen die Menschen ihr Medienberichten zufolge „Feigling“ und „Schande über dich“ hinterher.

Später machen die Menschen ihrer Wut auf die Regierung bei Demonstrationen Luft. Am Samstag versucht die Queen, bei der offiziellen Feier zu ihrem 91. Geburtstag die Lage zu beruhigen. Sie spricht von einer sehr betrübten Stimmung im Lande. Aber das Königreich habe sich im Angesicht von Widrigkeiten schon in der Vergangenheit als standhaft erwiesen und werde auch jetzt alles tun, um den Opfern der Tragödien zu helfen.

Theresa May steckt nach der Brandkatastrophe in der zweiten Krisensituation innerhalb von gut einer Woche und wirkt erneut massiv überfordert. Erst hat die Premierministerin die absolute Mehrheit ihrer konservativen Partei in vorgezogenen Neuwahlen aufs Spiel gesetzt und verloren – wegen einer Reihe selbst verschuldeter Fehler. Statt diese einzuräumen, scheint sie einfach weiterregieren zu wollen wie bisher und den nächsten Fehler zu riskieren. Denn um wichtige Entscheidungen im Unterhaus durchzusetzen, will sich May die Unterstützung der nordirischen Democratic Unionist Partei (DUP) sichern. Damit droht sie den fragilen Frieden in Nordirland in Gefahr zu bringen, denn eigentlich hat die Londoner Zentralregierung dort die Verpflichtung neutral zu bleiben und sich nicht mit einer nordirischen Partei zu verbünden. Auch die angestrebte Allianz mit der DUP hat Proteste ausgelöst.

Ihre nächsten Fehler folgen nach dem Hochhausbrand im Londoner Stadtteil Kensington. Mindestens 30 Menschen sterben, etwa 70 Menschen werden weiterhin vermisst. Und diejenigen, die überlebt haben, haben es offenbar mit komplett überlasteten Behörden zu tun. Tage nach dem Unglück schlafen die Menschen offenbar noch immer in provisorischen Unterkünften auf dem Boden und wissen nicht, ob und wo sie ein neues Zuhause finden. Sie berichten über den Kurznachrichtendienst Twitter und im Gespräch mit britischen Medien von einem „absoluten Chaos“ und „fehlender Organisation“ auf offizieller Seite. Zurzeit übernehmen offenbar Kirchen und Moscheen das Krisenmanagement.

May hat es zunächst Staatssekretären überlassen, sich des Unglücks anzunehmen. Einen Tag nach dem Brand hat sie eine umfassende Untersuchung der Ursachen angekündigt und zwei Tage später ein Hilfspaket.


„Unmenschlich und gefühllos“

Dass sie es zunächst vermieden hat, sich mit den Opfern zu treffen, wurde mit Sicherheitsbedenken erklärt. Doch nachdem die Königin die Überlebenden des Unglücks am Freitagmorgen besuchte, erschien diese Erklärung in zunehmenden Maße unplausibel. Schon im Wahlkampf wurde der Premierministerin vorgeworfen, dass sie Begegnungen mit normalen Wählern aus dem Weg zu gehen versucht. Das versuchte sie offenbar auch nach dem Brandunglück und zog erneut Kritik auf sich. Sie erscheine hartherzig und lege keine menschlichen Züge an den Tag, sagte etwa ein ehemaliger Staatssekretär.

Ein Guardian-Kolumnist kritisierte nach dem Newsnight-Interview: „Eigentlich sollte man denken, dass uns inzwischen nichts mehr schockiert. Aber ich bin erschüttert von Theresa Mays Interview.“ Auch andere Zuschauer nannten May danach „unmenschlich und gefühllos“. Sie sei eine Regierungschefin, wie man sie in Zeiten wie diesen nicht braucht, schrieb ein Twitter-Nutzer.

Mitglieder ihrer eigenen Partei stellen sich jetzt in zunehmenden Maße die Frage, wie lange May weitermachen kann. Der Tory-Politiker Ed Vaizey sagte in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Bloomberg, May werde sich nicht mehr lange halten können. Es könnten sechs Monate oder bis zu zwei Jahre sein, so Vaizey.

Die konservative Tageszeitung „Times“ machte sich in einem Kommentar in ihrer Samstagsausgabe dafür stark, dass die Partei noch deutlich eher etwas unternehmen müsse. „Je schneller Theresa May geht, desto besser“, so das Blatt. „Denn wenn die Partei nicht jetzt etwas gegen die tödlich verwundete Premierministerin unternimmt, wird die nächste Wahl eine Niederlage in der Größenordnung von 1997 bringen.“ Damals hat die konservative Partei nur 165 Unterhaussitze gewonnen – so wenige wie seit 1906 nicht mehr. Die Labour-Partei unter Tony Blair konnte 1997 dagegen einen Erdrutschsieg feiern. Ein ähnliches Massaker stehe den konservativen Tories erneut bevor, wenn sie May weiterstolpern ließen, warnt die „Times“.

Schon vor einer Woche war von einer parteiinternen Revolte gegen May die Rede. Doch im Gespräch mit einer Gruppe einflussreicher Tories hat die Premierministerin offenbar die richtigen Worte gefunden und sich Zeit erkauft. „Ich hab uns das Chaos eingebrockt, ich werde uns aus diesem Chaos wieder herausholen“, hat sie versprochen. Es sieht derzeit so aus, als ob sie das Land nur noch tiefer ins Chaos stürzt.

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