Buchauszug Martin Richenhagen: Der Amerika-Flüsterer

Der deutsche Manager Martin Richenhagen hat seine Erfahrungen in einem Buch festgehalten. Quelle: REUTERS

Der deutsche Manager Martin Richenhagen hat 16 Jahre lang den US-amerikanischen Landtechnik-Hersteller AGCO geführt, die US-Präsidenten beraten – und nun ein Buch geschrieben. Ein Auszug vorab.

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Martin Richenhagen, geboren 1952 in Köln, war bis 2020 Chairman, President und CEO des US-Landtechnik-Herstellers AGCO. Der Manager lenkte 16 Jahre lang das Fortune-500-Unternehmen. Er ist aktuell Chairman des American Institute for Contemporary German Studies in Washington, DC und aktiv in mehreren Aufsichtsräten. Richenhagen lebt bei Atlanta im Südosten der USA. Sein Buch „Der Amerika-Flüsterer. Mein Weg vom deutschen Religionslehrer zum US-Topmanager“ erscheint am 8. April 2021 bei Edel Books, 24,95 Euro. Der hier publizierte Auszug ist dem Kapitel „Kulturkitt“ entnommen.

Bei einer der größten Demonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland steckte ich mittendrin. Der 22.Oktober 1983: 500.000 Menschen waren in Bonn zusammengekommen, um gegen den NATO-Doppelbeschluss zu protestieren. Als Antwort auf die sowjetischen SS-20 sollten in fünf westeuropäischen Ländern Pershing II stationiert werden, mit Atomsprengköpfen bestückte Mittelstreckenraketen. Eines dieser Länder war Deutschland. Mich ließ die Debatte eher kalt, muss ich zugeben. Dass ich dennoch zur Demo fuhr, hatte einen anderen Grund. Es war ein Samstagmorgen, als mich meine hochschwangere Frau weckte: „Es ist so weit.“ Ich wollte mich lieber noch mal umdrehen, aber an Schlaf war natürlich nicht mehr zu denken. Wir mussten rasch los. Mit dem Notarztwagen ging es auf den Venusberg zum Universitätsklinikum, einmal quer durch Bonn. Der Fahrer hatte seine Mühe, denn alle Straßen waren wegen der Großdemo verstopft. Man musste dauernd mit den Demonstranten reden, damit sie einen durchließen…

Einen Monat nach der Riesendemo in Bonn stimmte der Bundestag dafür, dass Pershing II in Deutschland stationiert werden sollten, was kurz darauf auch geschah. US-Präsident war damals Ronald Reagan, der in Deutschland alles andere als beliebt war. Die Leute fragten: „Wie kann es sein, dass ein drittklassiger Schauspieler Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika werden kann?“ Meine Meinung war schon damals eine andere. Ich fand Reagans Vorgehen gut, bei dem es am Ende darum ging, die Russen quasi in Grund und Boden zu investieren. Die gigantischen Militärausgaben Amerikas haben aus meiner Sicht entscheidend dazu beigetragen, dass die Sowjetunion auseinandergefallen ist und der Kalte Krieg zu Ende ging. Die Russen mussten mitziehen, konnten es aber nicht. So war Reagan zumindest ein Stück weit mitverantwortlich dafür, dass es die Wiedervereinigung geben konnte.

Soeben erschienen: „Der Amerika-Flüsterer. Mein Weg vom deutschen Religionslehrer zum US-Topmanager“, Edel Books, 24,95 Euro Quelle: Presse

Wie kann so jemand überhaupt Präsident werden? Diese Frage hat man nicht nur bei Reagan regelmäßig gehört. Genauso war es bei Bush jr. und dann auch bei Trump. Ich habe Freunde, die wollten mich während der Amtszeit von George W. Bush nicht in Amerika besuchen. Sie sagten: „Solange Bush Präsident ist, kommen wir nicht.“ Meine Antwort: „Dann kannst du auch zu Hause bleiben, wenn Bush nicht mehr regiert. Ich werde dich nicht mehr einladen.“ Was kann ich dafür, dass das Land, in dem ich lebe, den möglicherweise falschen Präsidenten hat? Viele Menschen in Deutschland behaupten, dass das politische System bei ihnen besser und vor allem gerechter sei. Dass es in Deutschland jemand wie Trump gar nicht nach oben schaffen würde. Natürlich ist es besser, nicht von Trump regiert zu werden. Aber ich frage mich schon, ob das allein als Argument genügt, um den Kontakt abzubrechen.

Ein Schauspieler oder ein Immobilienunternehmer als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland? Schwer vorstellbar. Es ist ganz offensichtlich so, dass nicht jeder Bundeskanzler werden kann. Denn zuvor gilt es, einen parteiinternen Selektionsprozess zu durchlaufen, der Jahrzehnte dauert. Bundeskanzler in Deutschland, das werden immer Parteikarrieristen, die vorher innerhalb ihrer Partei alles weggebissen und ausgeschaltet haben, was gefährlich werden könnte. In Amerika ist das ein ganz anderer Prozess. Man kann Präsident werden, ohne dass es ein Thema ist, ob die Partei zustimmt oder nicht. Jeder in Amerika geborene Bürger kann Präsident werden. Ich empfinde das als einen wichtigen Unterschied und sehr respektabel. Da kann jeder aufstehen und sagen: „Ich will jetzt Präsident werden.“ Trump war ja zunächst sogar bei den Demokraten, bevor er zu den Republikanern wechselte. Der amerikanische Prozess ist für mich grundsätzlich sogar demokratischer als der deutsche.

Ich kenne Leute, die für das höchste Amt im Staat kandidiert haben. Einer von ihnen war Herman Cain, der 2004 bei uns in den AGCO-Aufsichtsrat eingezogen war. Ein Schwarzer aus Atlanta, ein echter Selfmademan, der als Chef der Fast-Food-Kette Godfather’s Pizza Erfolg hatte und eben im Nebenjob Prediger war. Seinen gospelartigen Gottesdienst hatten Brigitte und ich ja zweimal besucht. Man muss sagen: Cain hatte Entertainerqualitäten, er nannte sich „Hermanator“ und hatte in Atlanta sogar eine eigene Radioshow. Cain legte das Mandat bei AGCO nieder, um sich voll auf den Wahlkampf gegen Barack Obama zu konzentrieren. Da lag er im Lager der Republikaner aussichtsreich im Rennen, er führte mit 27 Prozent der republikanischen Wähler im Vorwahlkampf noch vor Mitt Romney und Newt Gingrich. Er wollte mit der griffigen Formel 9–9–9 das Steuersystem revolutionieren und sowohl die Einkommens- als auch die Unternehmens- und Umsatzsteuer auf jeweils 9 Prozent senken. Fand ich eine spannende Idee. Auf dem Weg nach Washington stolperte er über einen umstrittenen Belästigungsvorwurf, der ihn zur Aufgabe zwang.

Bei der Präsidentschaftskandidatur spielt Geld eine große Rolle

Cain starb im Juli 2020 an Covid-19, nachdem er am 20. Juni an einer Wahlkampfveranstaltung seines Freundes Donald Trump teilgenommen hatte – ohne Maske. Neun Tage später wurde die Infektion diagnostiziert. Ich glaube, einige Hundert Tote gehen auf Trumps Konto allein wegen seines unverantwortlichen Wahlkampfs. Herman Cains Trauerfeier habe ich besucht.

Das Problem bei einer Präsidentschaftskandidatur in den USA ist natürlich, dass Geld eine so große Rolle spielt. Auch Cain hätte mit seinen vergleichsweise bescheidenen Mitteln 2012 vermutlich noch Schwierigkeiten bekommen. Man muss den Wahlkampf ja selbst finanzieren. Und das geht nur, wenn man entweder Milliardär ist oder viele Unterstützer hat. Für Leute aus sozial schwachen Verhältnissen oder Vertreter von Minderheiten etwa ist es schwierig, eine Chance zu haben. Ich kann mir derzeit schwer vorstellen, dass beispielsweise eine junge Frau mit südamerikanischen Wurzeln Präsidentin wird. Mit Gerhard Schröder dagegen hat es in Deutschland jemand aus einfachen Verhältnissen an die Spitze geschafft. Er ist natürlich ein unglaublich geschickter Kämpfer gewesen. Aber er musste sich auch durchbeißen – von den Jusos bis ins Kanzleramt, wo er ja sehr sinnbildlich schon 1982 nachts in Bonn leicht alkoholisiert am Zaun rüttelte, wie kolportiert wird. Es ist ein langer Weg, um überhaupt kandidieren zu können. Und das kann in den USA im Grunde jeder.

Was schon in der Reagan-Ära auffiel, dann bei Bush und erst recht bei Trump: Viele Menschen in Deutschland treffen ihre Bewertung der USA allein aufgrund der Person, die gerade regiert. Wenn die einem nicht passt, ist gleich das ganze Land schlimm und man will nichts mehr damit zu tun haben. Das halte ich schon mit Blick auf die Zahlen für falsch. 2016 lebten in den USA rund 325 Millionen Menschen. 63 Millionen US-Amerikaner wählten Donald Trump. Wer also Amerika als Trump-Land ablehnte, tat gut 80 Prozent der Bevölkerung unrecht. Natürlich sind nicht alle wahlberechtigt und nicht alle Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab. Aber was will man denen vorwerfen? Jetzt ist Joe Biden Präsident – sind die USA damit wieder ein gutes Land? Falls ja: Was bedeutet es, dass Donald Trump 2020 mit mehr als 70 Millionen Stimmen sogar erheblich mehr Wähler hatte als vier Jahre zuvor? Im Grunde gilt es doch zu akzeptieren, dass ein Idiot an der Spitze nicht bedeutet, dass die anderen Amerikaner auch alle Idioten sind...

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Die Amerikaner haben eine andere Mentalität. Wenn ein Amerikaner Geld hat, gibt er das aus. Zum Beispiel für ein riesiges, teures Haus. Ist man kreditwürdig, dann bekommt man einen dicken Hypothekenkredit, zwanzig bis dreißig Jahre fest, zu minimalen Zinsen, mit lediglich 10 Prozent Eigenkapital. Man kauft ein Haus für 2 Millionen, hat da 200.000 eigenes Geld drinstecken, also relativ wenig, und einen Job, mit dem man die Zinslast bedienen kann. Wenn es gut geht, steigen die Preise und dann wird das Haus irgendwann verkauft. Dann kauft man ein noch größeres. Wenn es aber eine Krise gibt, bemerkt man auf einmal, wie reihenweise die Häuser zwangsversteigert werden, weil die Leute ihren Job verlieren und keine Absicherung haben. Genauso ist das bei Autos. Der Amerikaner sagt nicht: „Mein Lebenstraum ist, mal Ferrari oder Porsche zu fahren.“ Der Amerikaner least sich einen Ferrari, wenn er sich das leisten kann, und fährt dann da mal ein paar Jahre mit rum. Interessant ist: Wenn das alles finanziell nicht mehr funktioniert, dann akzeptieren die Leute das auch. Dann trifft man beim Limousinenservice auf Fahrer, die früher mal im Vorstand von einem Computerhersteller waren oder einst erfolgreiche Verkaufsleiter. Wenn sie ihre Kohle verballert haben, dann arbeiten die auch bis achtzig. Das ist eine andere Einstellung zum Leben.

Mehr zum Thema: Martin Richenhagen hat Pläne. Nach seinem Abgang als CEO beim Landmaschinenhersteller AGCO will er sich um die transatlantischen Beziehungen kümmern.

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