
Eine syrische Regierungsoffensive und eine massive Ausweitung russischer Luftangriffe in dem Bürgerkriegsland haben eine neue Flüchtlingswelle ausgelöst. Nach Angaben der türkischen Hilfsorganisation IHH vom Freitag trafen allein an einem Grenzübergang bereits 50.000 Zivilisten ein, die sich vor den Kämpfen und Bombardements rund um die nordsyrische Wirtschaftsmetropole Aleppo in Sicherheit bringen wollen.
Unterstützt von russischen Kampfjets erzielen die syrischen Regierungstruppen und mit ihnen verbündete Milizen derzeit an zwei Fronten des Bürgerkriegs Erfolge: Am Freitag eroberten sie ein weiteres Dorf bei Aleppo und kamen damit der Umzingelung der Großstadt näher. Im Südwesten eroberten sie die Stadt Atman und öffneten so Nachschublinien in die umkämpfte Stadt Daraa. Über die militärischen Erfolge berichteten sowohl staatliche Medien als auch die der Opposition nahestehende Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.
Die Offensive nahe der türkischen Grenze hatte Anfang der Woche begonnen und die Flucht von Zehntausenden Zivilisten ausgelöst. Nach Angaben der türkischen Regierung warten 15.000 Flüchtlinge auf der syrischen Seite der Grenze und 70.000 weitere sind auf dem Weg dorthin. Aber die türkische Hilfsorganisation IHH, die zehn Lager für vertriebene Syrer an der Grenze betreibt, sprach allein am Grenzübergang Bab al-Salam von rund 50.000 Neuankömmlingen. Die Grenze war am Freitag geschlossen, und es war nicht zu erkennen, ob die Türkei Flüchtlinge ins Land lässt.
Die Nato sieht die syrische Regierungsoffensive bei Aleppo mit wachsender Sorge. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte in Amsterdam, die Verletzungen des türkischen Luftraums häuften sich. Die Türkei hatte erst kürzlich wieder das Eindringen eines russischen Kampfjets in ihren Luftraum gemeldet und im vergangenen November sogar ein russisches Kampfflugzeug abgeschossen. Russische und syrische Luftangriffe in Grenznähe „schaffen Gefahren, verschärfen Spannungen und sind natürlich eine Herausforderung der Nato, weil es sich um Verletzungen des Nato-Luftraums handelt“, sagte Stoltenberg.
Die Akteure im Syrien-Konflikt
Anhänger von Präsident Baschar al-Assad kontrollieren weiter die meisten großen Städte wie Damaskus, Homs, Teile Aleppos sowie den Küstenstreifen. Syriens Armee hat im langen Krieg sehr gelitten, konnte aber infolge der russischen Luftunterstützung seit September 2015 wieder Landgewinne verzeichnen. Machthaber Assad lehnt einen Rücktritt ab.
Die Terrormiliz beherrscht im Norden und Osten riesige Gebiete, die allerdings meist nur spärlich besiedelt sind. Durch alliierte Luftschläge und kurdische Milizen mussten die Islamisten im Norden Syriens mehrere Niederlagen einstecken. Unter der Herrschaft der Miliz, die auch im Irak große Gebiete kontrolliert, verbleibt die inoffizielle Hauptstadt Raqqa, die bedeutende Versorgungsstrecke entlang des Euphrat und ein kleiner Grenzübergang zur Türkei. Offiziell lehnen alle lokalen und internationalen Akteure den IS ab.
Sie sind vor allem im Nordwesten und Süden Syriens stark. Ihr Spektrum reicht von moderaten Gruppen, die vom Westen unterstützt werden, bis zu radikalen Islamisten.
Die zu Beginn des Kriegs bedeutende Freie Syrische Armee (FSA) hat stark an Einfluss verloren. Sie kämpft vor allem gegen Diktator Assad.
In der „Islamischen Front“ haben sich islamistische Rebellengruppen zusammengeschlossen. Ihr Ziel ist der Sturz Assads und die Errichtung eines „Islamischen Staates“ – die gleichnamige Terrormiliz lehnen sie jedoch ab. Sie werden von Saudi-Arabien unterstützt und sind ideologisch mit al-Qaida zu vergleichen. Militärisch untersteht ihr auch die „Dschaisch al-Fatah“, die von der Türkei unterstützt wird. Teilweise kooperieren sie mit der al-Nusra-Front, Ableger des Terrornetzwerks al-Qaida.
Sie ist zersplittert. Das wichtigste Oppositionsbündnis ist die Syrische Nationalkoalition in Istanbul. Diese wird von zahlreichen Staaten als legitim anerkannt, von vielen lokalen Akteuren wie al-Nusra oder der kurdischen PYD jedoch abgelehnt.
In Damaskus sitzen zudem Oppositionsparteien, die vom Regime geduldet werden. Bei einer Konferenz in Riad einigten sich verschiedenen Gruppen auf die Bildung eines Hohen Komitees für Verhandlungen, dem aber einige prominente Vertreter der Opposition nicht angehören.
Kurdische Streitkräfte kontrollieren mittlerweile den größten Teil der Grenze zur Türkei: Sie sind ein wichtiger Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Dabei kämpfen sie teilweise mit Rebellen zusammen, kooperieren aber auch mit dem Regime. Führende Kraft sind die „Volksverteidigungseinheiten“ YPG der Kurden-Partei PYD, inoffizieller Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK. Diese streben einen eigenen kurdischen Staat an – die Türkei lehnt das vehement ab.
Washington führt den Kampf gegen den IS an der Spitze einer internationalen Koalition. Kampfjets fliegen täglich Angriffe. Beteiligt sind unter anderem Frankreich und Großbritannien. Deutschland stellt sechs Tornados für Aufklärungsflüge über Syrien, ein Flugzeug zur Luftbetankung sowie die Fregatte „Augsburg“, die im Persischen Golf einen Flugzeugträger schützt. Washington unterstützt moderate Regimegegner.
Die Türkei setzt sich für den Sturz Assads ein und unterstützt seit langem Rebellengruppen wie die islamistische Dschaisch al-Fatah. Neben der Sicherung ihrer 900 Kilometer langen Grenze ist die Türkei seit August 2016 auch mit Bodentruppen in Syrien vertreten. Ziel ist neben der Vergeltung für Terroranschläge des IS auch, ein geeintes Kurdengebiet im Norden Syriens zu verhindern.
Der Abschuss eines russischen Flugzeugs über türkischem Luftraum im November 2015 führte zu Spannungen zwischen Russland und der Türkei.
Seit September 2015 fliegt auch Russlands Luftwaffe Angriffe in Syrien. Moskau ist einer der wichtigsten Unterstützer des syrischen Regimes: Rebellenorganisationen werden pauschal als „Terroristen“ bezeichnet und aus der Luft bekämpft. Der Kampf gegen islamistische Rebellen soll auch ein Zeichen an Separatisten im eigenen Land senden.
Geostrategisch möchte Russland seinen Zugriff auf den Mittelmeerhafen Tartus nicht verlieren.
Teheran ist der treueste Unterstützer des Assad-Regimes, auch aus konfessionellen Gründen. Iraner kämpfen an der Seite der syrischen Soldaten. Die von Teheran finanzierte Schiitenmiliz Hisbollah ist ebenfalls in Syrien im Einsatz. Sie fürchten die Unterdrückung der schiitischen Minderheit im Falle eines Sieges sunnitischer Rebellen, aber auch den Verlust von regionalem Einfluss.
Riad ist ein wichtiger Unterstützer vornehmlich islamistischer Rebellen. Sie fordern, dass Assad abtritt. Saudi-Arabien geht es auch darum, den iranischen Einfluss zurückzudrängen. Der Iran ist der saudische Erzrivale im Nahen Osten.
Trotz religiöser Ähnlichkeiten zwischen IS und dem saudischen Wahabismus engagiert sich Saudi-Arabien im Kampf gegen den IS.
Er warf Russland vor, mit seinem Eingreifen zugunsten von Präsident Baschar al-Assad „Bemühungen zu unterlaufen, eine politische Lösung für den Konflikt zu finden“. Die Genfer Friedensgespräche wurden vom UN-Vermittler Staffan de Mistura am Mittwoch für drei Wochen ausgesetzt. Der Schritt fiel mit militärischen Erfolgen der syrischen Regierungstruppen zusammen.
Das russische Verteidigungsministerium teilte mit, seine Luftwaffe habe in dieser Woche 875 Ziele in Syrien angegriffen, auch im Gebiet der derzeitigen Regierungsoffensive im Norden. Am Freitag eroberten syrische Truppen zusammen mit verbündeten Milizen das Dorf Ratjan nördlich von Aleppo, berichteten die staatliche syrische Nahrichtenagentur Sana und die Beobachtungsstelle in Großbritannien, die Informationen oppositioneller Aktivisten in Syrien sammelt.
Der Beobachtungsstelle zufolge wurden die Bodentruppen von russischen Kampfjets unterstützt. Mit der Einnahme Ratjans hätten die Regierungstruppen Verbindungsstraßen in die überwiegend schiitischen Dörfer Nubl und Sahraa gesichert, die von Rebellen mehr als drei Jahre belagert wurden. Regierungstruppen durchbrachen Anfang der Woche den Belagerungsring.
Auch der Eroberung Atmans seien schweres Artilleriefeuer und Luftangriffe vorangegangen, berichtete die Beobachtungsstelle. Sana meldete, bei der Offensive seien Rebellenverbände zerschlagen worden. Daraa ist eine der Städte, in denen 2011 die Proteste gegen Assad begannen.