London Die warnenden Worte waren ebenso ungewöhnlich wie vielsagend. „Das ganze Land wird den Preis bezahlen“, warnte kürzlich der britische Premierminister David Cameron, wenn die Hauptstadt den Labour-Kandidaten Sadiq Khan zum neuen Bürgermeister wähle. Denn London werde dann zu einem „Testlabor“ für die Politik des neuen linke Labour-Führers Jeremy Corbyn.
Es sind markige Worte, mit denen Cameron in die heiße Phase der Bürgermeisterwahl in der Acht-Millionen-Metropole London eingreift. Doch der Umstand, dass der mächtigste Mann der britischen Regierung sich überhaupt in den Ausgang einer Bürgermeisterwahl einmischt, beweist unfreiwillig noch etwas anderes: Wie prekär die Lage der regierenden Konservativen wenige Tage vor diesem prestigeträchtigen Urnengang in der britischen Hauptstadt ist.
Denn der Labour-Kandidat Khan, Sohn eines pakistanischen Busfahrers, steht kurz davor, bei der Wahl am 5. Mai die Kapitale von den Tories zurückzuerobern. Seit 2008 schwingt der populäre Konservative Boris Johnson das Zepter in der Hauptstadt. Die Umfrageergebnisse sehen derzeit mehrheitlich Khan als Favorit an den Urnen, was den Ton der Tories gegen den Labour-Kandidaten nun immer schriller werden lässt.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Die Kampagne des konservativen Kandidaten Zac Goldsmith kommt nicht wirklich vom Fleck. Dabei haben die Tories mit dem 41-Jährigen, Sohn des Milliardärs Sir James Goldsmith ist, einen blütenreinen Repräsentanten der britischen Oberschicht in das Rennen um das Londoner Bürgermeisteramt geschickt. Noch vor einem Jahr galt Zac Goldsmith als Favorit für die Bürgermeisterwahl.
Bei der Wahl treten nicht nur zwei sehr unterschiedliche politische Konzepte an, sondern auch zwei sehr unterschiedliche Männer. Während die Konservativen um Premierminister Cameron mit Goldsmith erneut einen Vertreter der Oberschicht zum Spitzenkandidaten machten, hat Labour mit Khan auf einen Kandidaten gesetzt, der eine Art Gegenprogramm darstellt. Schon im Herbst sah die Zeitung „The Guardian“ einen „persönlich und politisch faszinierenden Kampf“ um das Londoner Rathaus.
Khan versus Goldsmith – das ist ein politisches Duell der Gegensätze: der linke Weltverbesserer gegen den vermögendsten Abgeordneten des Unterhauses; der benachteiligte Sohn eines Busfahrers gegen den privilegierten Eton-Zögling; der Muslim aus einer zehnköpfigen Familie gegen den Millionär mit großem Haus im feinen Stadtteil Barnes.
Das Votum in London wird nicht nur eine erste Bewährungsprobe für den neuen Labour-Führer Corbyn. Die Abstimmung gewinnt auch dadurch an Bedeutung, dass sie in der Brexit-Debatte für neuen Zündstoff sorgen könnte. Zwar stehen im Londoner Wahlkampf vor allem Themen wie die immer höheren Haus- und Wohnungspreise sowie die rasant steigenden Ausgaben für den öffentlichen Nahverkehr im Vordergrund. Aber auch in der Brexit-Debatte stehen Khan und Goldsmith auf unterschiedlichen Seiten der Barrikade.
So plädiert Goldsmith wie Boris Johnson, der Wortführer der Brexit-Anhänger, offen für einen EU-Austritt. Diesen lehnt dagegen Konkurrent Khan dagegen ab. Goldsmith setze damit Jobs, die Lebensqualität und die Sicherheit der Hauptstadt aufs Spiel, giftet der Labour-Mann in Richtung des Tories.
Das ist ein klares Bekenntnis pro Europa, das in London mit seinem hohen Anteil an EU-Bürgern taktisch klug sein könnte. Die Rekordzahl von 559.500 EU-Ausländern ist zur Bürgermeisterwahl registriert. Angesichts des Kopf-an-Kopf-Rennens in London könnte diese Gruppe letztlich wahlentscheidend sein, wie bereits die die Londoner Zeitung „Evening Standard“ unkte.
Doch Goldsmith scheint das nicht zu scheren. Der Mann, der in zweiter Ehe mit einer gebürtigen Rothschild verheiratet ist, gibt sich gerne als Querdenker und Rebell. Seine finanzielle Unabhängigkeit hat er in den vergangenen Jahren vielfach dazu genutzt, sich als Freigeist zu profilieren, als unbequemen Abgeordneten im Unterhaus. Ein Charakterzug, den er nun auch als Bürgermeister-Kandidat zeigt.
So ist der Brexit nicht das einzige Thema, bei dem der konservative Abgeordnete im Widerspruch zu seinem Regierungschef steht. Auch in einer anderen wichtigen Frage für London bewegt sich Goldsmith auf Kollisionskurs: Er lehnt einen Ausbau des größten Londoner Flughafens Heathrow strikt ab.
Im Vergleich mit Goldsmith ist der grauhaarige Sadiq Khan – trotz seines smarten Aussehens – weit weniger schillernd und glamourös. Der 44-Jährige ist der Sohn eines aus Pakistan eingewanderten Busfahrers und einer Näherin. Er wuchs in einer Sozialwohnung in Süd-London auf, wo er ein Schlafzimmer mit zwei Brüdern teilen musste. Nach einem Jurastudium hat sich Khan nach oben gearbeitet. 2009 wurde er der erste muslimische Staatsminister im Verkehrsministerium des Vereinigten Königreichs.