WirtschaftsWoche: Herr Brzeski, Russland rutscht in eine Krise, was sind die Ursachen?
Brzeski: Die Krise liegt an einer Kombination aus fallenden Öl- und Gaspreisen und westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland wegen der Annexion der Krim. Dem russischen Staat brechen die Einnahmen weg, denn Öl und Gas sind die wichtigsten Exportartikel des Landes. Dadurch fällt die Regierung als Nachfrager aus, was die Wirtschaft schwächt.
Wie lange halten die gewaltigen Devisenreserven Russlands?
Diese werden nicht ewig halten, zumal die Währungsreserven eingesetzt werden, um den fallenden russischen Rubel zu stützen. Außerdem sinkt ihre Kaufkraft wegen des immer schwächeren Wechselkurses.
Zur Person
Carsten Brzeski ist Chefvolkswirt bei der Direktbank INGDiba in Frankfurt.
An den Finanzmärkten geht daher Angst vor einer Staatspleite Moskaus um. Wie wahrscheinlich ist dieses Szenario?
Momentan halte ich das für unwahrscheinlich. Die Neuverschuldung des Staates ist gering, der Haushalt ausgeglichen. Russlands Schuldenstand ist mit einem Anteil von nur zehn Prozent an der jährlichen Wirtschaftsleistung des Landes außerordentlich niedrig. Zum Vergleich: Manche Industrienationen sind zu mehr als 100 Prozent verschuldet.
Ist die Krise also gar nicht so gravierend?
Doch. Für die russische Wirtschaft ist die Krise gravierend, die Zentralbank warnte vor ihrer jüngsten Leitzinserhöhung vor einem Wirtschaftseinbruch um vier Prozent.
Welche Folgen hat es für die Weltwirtschaft, wenn Russland als Wachstumslokomotive ausfällt?
In den Jahren 2010 bis 2012 hatte Russland tatsächlich die Rolle einer globalen Konjunkturlokomotive. Allerdings ist die Dynamik danach deutlich zurückgegangen. Für sich allein genommen ist Russland nicht groß und wichtig genug, um die Weltwirtschaft stark nach unten zu ziehen. So wird die aktuelle Krise für Europa und Deutschland spürbar sein, aber beherrschbar bleiben. Von den deutschen Exporten gehen nur 2,5 Prozent nach Russland. Und etwa in den USA wird man die Auswirkungen kaum spüren.
Wann kommen die Auswirkungen in Deutschland an?
Auf den Finanzmärkten spüren wir die Auswirkungen bereits. Schon vor der Eskalation der Krise sind die deutschen Exporte nach Russland im Jahresvergleich um etwa 20 Prozent zurückgegangen. Wenn der Rubelverfall weiter fällt, könnten deutsche Qualitätswaren wegen ihrer relativ hohen Preise für russische Importeure schnell unerschwinglich werden.
"Zu Wirtschaftshilfen wird es nicht so schnell kommen"
Droht den europäischen Banken eine Vertrauenskrise, wenn massenhaft russische Schuldner ausfallen?
Einige wenige Banken könnte es vielleicht punktuell treffen, aber die Gefahr einer allgemeinen Vertrauenskrise im Bankensektor schätze ich momentan als sehr gering ein. Die Kreditinstitute haben ihre Engagements in Russland schon zu Beginn der Sanktionen reduziert, außerdem ist das Bankensystem durch neue Regeln zur Aufsicht und Abwicklung viel sicherer geworden. Auch für die Finanzmärkte ist das Gewicht Russlands überschaubar.
Putins Folterwerkzeuge im Sanktionskrieg
Der Kreml droht damit, den Import westlicher Pkw nach Russland einzuschränken. Der russische Markt ist aber schon länger in der Krise. 2013 exportierten deutsche Hersteller 132 000 Fahrzeuge nach Russland - im Jahr davor waren es noch knapp 157 000. Bei Volkswagen liegt der Konzernabsatz in Russland nach zwei Dritteln des Jahres 12 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Unabhängig von den Sanktionen sagt ein VW-Insider: „Der Markt fliegt uns ganz schön um die Ohren.“ Die Sanktionen könnten jene Hersteller teils schonen, die in Russland in eigenen Fabriken produzieren. Der Duisburger Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer hält Importverbote deshalb für verkraftbar: „Nahezu alle wichtigen deutschen Autobauer wie VW, Opel-Chevrolet, Ford, BMW, Daimler Nutzfahrzeuge sind mit Werken in Russland vertreten.“ Der Präsident des Branchenverbands VDA, Matthias Wissmann, aber rät zum Blick über den Tellerrand: Das Thema drücke auf die Psychologie der internationalen Märkte.
Macht Moskau ernst und den Luftraum für westliche Airlines über Sibirien dicht, wäre das ein harter Schlag. Genau das hat Russlands Regierungschef Dmitri Medwedew im Sinn: „Wenn westliche Gesellschaften unseren Luftraum meiden müssen, kann das zum Bankrott vieler Fluggesellschaften führen, die schon jetzt ums Überleben kämpfen.“ Beispielsweise müssten die großen europäischen Airlines Air France-KLM, British Airways oder Lufthansa, die über Sibirien nach Asien fliegen, auf längere Routen ausweichen. Das kostet Treibstoff, Besatzungen müssen länger arbeiten. Experten gehen von etwa 10 000 Euro Mehrkosten pro Flug aus. Dies dürfte nicht ohne Folgen auf die Ticketpreise bleiben, von längeren Flugzeiten für die Kunden ganz zu schweigen. Aber: Bisher päppelte Moskau mit den Einnahmen von über 200 Millionen Euro pro Jahr aus den Überflugrechten die Staatsairline Aeroflot auf. Lachender Dritter wären wohl die Chinesen. Sie könnten dank des Sibirien-Kostenvorteils die Europäer im lukrativen Asiengeschäft noch mehr ärgern.
Bei Lebensmitteln machte Putin bereits ernst und verhängte Anfang August einen Importstopp, weil ihm erste EU-Sanktionen nicht schmeckten. Die 28 EU-Staaten, die USA, Australien, Kanada und Norwegen dürfen für ein Jahr Fleisch, Fisch, Milch, Obst und Gemüse nicht mehr einführen. Einzelne Agrarländer wie Griechenland trifft das hart. Für die deutsche Agrarbranche sind die Folgen überschaubar, sagt Bundesagrarminister Christian Schmidt (CSU). Um Verwerfungen im EU-Markt wegen des Überangebots zu verhindern, rief Schmidt die Verbraucher auf, mehr heimisches Obst und Gemüse zu essen: „One apple a day keeps Putin away“ (Ein Apfel am Tag hält Putin fern). Nun kündigt Moskau an, auch Produkte der Textilindustrie auf den Index zu setzen. Details sind aber unklar.
Hier hält Putin die ultimative „Waffe“ in der Hand. Dreht er den Gashahn zu, hätte Europa ein Problem. Grund zur Panik besteht aber nicht. Die Gasspeicher sind randvoll (Deutschland: 91,5 Prozent, EU-weit: 90), die Vorräte dürften zumindest in Deutschland, das seinen Gasbedarf zu mehr als ein Drittel aus Russland deckt, bis zum Frühjahr reichen. Das Baltikum und Finnland sind aber zu 100 Prozent von russischen Gasimporten abhängig, viele südosteuropäische Länder hängen auch am Gazprom-Tropf. Die Bundesregierung geht davon aus, dass Putin liefertreu bleibt, nicht auf die Export-Milliarden verzichten kann. Die knallharte Entscheidung der EU, die russischen Energieriesen Gazprom Neft, Rosneft, Transneft sowie Rüstungsfirmen jetzt vom europäischen Kapitalmarkt abzuschneiden, dürfte Putin aber mächtig reizen. Polen meldet, Gazprom liefere weniger Gas als vereinbart - was der Monopolist von Putins Gnaden bestreitet.
Aber auch Zypern war ein Leichtgewicht.
Ja, aber die Zypernkrise hat Europas Banken auch nicht in den Abgrund gezogen. Nach einer Woche Zittern hatte sich die Lage wieder beruhigt.
Manche deutschen Politiker fordern nun Wirtschaftshilfen für Russland. Wie sinnvoll ist das aus ökonomischer Sicht?
Wirtschaftshilfen wären widersprüchlich, solange die Sanktionen weiter bestehen. Wirklich helfen könnten nur Kredite des Internationalen Währungsfonds. Diese kann es aber nur unter Auflagen geben. Für den russischen Präsidenten Putin wäre das ein Gesichtsverlust, deshalb wird es dazu nicht so schnell kommen.
Wie verlockend ist eine Staatspleite aus Sicht der russischen Regierung?
Grundsätzlich gibt es eine solche Verlockung, weil sich Regierungen auf diesem Weg schnell ihrer Verbindlichkeiten entledigen können. Die schon angesprochene niedrige Schuldenquote hat Russland auch seiner Staatsinsolvenz Ende der 1990er Jahre zu verdanken. Aber durch einen solchen Schritt würde Moskau seine Kreditwürdigkeit zerstören und deshalb bis zuletzt davor zurückschrecken.
Sie sind Chefvolkswirt einer Bank mit Hauptsitz in den Niederlanden. Wie ist die Stimmung im Land nach dem ungeklärten Abschuss eines Passagierflugzeugs über der Ukraine mit hunderten niederländischen Todesopfern?
Die Stimmung gegenüber Russland ist sehr nüchtern. Es gibt keinerlei Schadenfreude angesichts der russischen Krise.