Chaos in Brasilien Hoffnungsschimmer für Dilma Rousseff

Ein Skandal nach dem anderen erschüttert die brasilianische Übergangsregierung. Dass die abgesetzte Präsidentin Dilma Rousseff endgültig ihren Hut nehmen muss, scheint plötzlich nicht mehr sicher.

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Brazilian suspended President Dilma Rousseff (R) greets supporters during her visit to the construction site of Sirius, a new 3 GeV synchrotron light source, designed to be one of the most advanced in the world, in Campinas, Sao Paulo, Brazil on June 9, 2016. Sirius, a new 3 GeV synchrotron light source, designed to be one of the most advanced in the world. Its ultra-low emittance (0.28 nm.rad) and high brightness will allow the execution of very competitive experiments, opening new perspectives for research in fields such as material science, structural biology, nanoscience, physics, earth and environmental science, cultural heritage, among many others. Sirius will be located inside CNPEM campus, next to the UVX current storage ring building (see the location here). For Latin America, the construction of Sirius represents a major leap into the future of synchrotron science. / AFP PHOTO / Miguel Schincariol Quelle: AFP

Rio de Janeiro Als Dilma Rousseff im Mai für sechs Monate suspendiert wurde, schien ihr endgültiges politisches Aus nur noch eine Formsache zu sein. Das Argument der brasilianischen Präsidentin, sie sei Opfer eines Staatsstreichs geworden, stieß auf taube Ohren. Eine Mehrheit in beiden Kammern des Kongresses kündigte an, für Rousseffs Amtsenthebung zu stimmen.

Doch nun scheint sich das Blatt überraschend zu wenden. Dabei trägt die Regierung von Übergangspräsident Michel Temer mehr zu einem möglichen Sinneswandel im Senat bei, als Rousseff es als amtierende Staatschefin je hätte erreichen können.

Denn schon in den ersten Wochen jagt ein Skandal den anderen: Es geht um die Veröffentlichung vertraulicher Tonaufzeichnungen, den plötzlichen Rücktritt zweier Minister, Korruptionsvorwürfe und umstrittene Entscheidungen Temers, darunter die Ernennung eines ausschließlich aus weißen Männern bestehenden Kabinetts. Einige Senatoren sagen bereits offen, dass sie sich nochmal überlegen werden, ob sie tatsächlich für Rousseffs Amtsenthebung stimmen sollen.

„Das ist eine sehr ernste Sache“, sagt der oppositionelle Senator Cristovam Buarque der Nachrichtenagentur AP mit Blick auf die Skandale in Temers Übergangsregierung. „Wir müssen noch vorsichtiger bei jeder Entscheidung sein, die wir über Dilmas Absetzung treffen. Bis das vorbei ist, kann noch viel passieren.“ Buarque hatte noch im vergangenen Monat für eine Suspendierung der Präsidentin votiert. Inzwischen ist er aber nach eigenen Worten unentschlossen, ob er sich auch für eine dauerhafte Amtsenthebung aussprechen soll.

Über Rousseffs Schicksal entscheidet ein Verfahren im Senat, das schon im Juli stattfinden könnte. Für eine definitive Absetzung der Staatschefin ist eine Mehrheit von mindestens 54 der insgesamt 81 Senatoren notwendig. Falls es dazu kommt, würde Temer bis zum regulären Ende von Rousseffs Amtszeit am 31. Dezember 2018 Präsident bleiben.

Auch Acir Gurgacz gehört zu dem mindestens halben Dutzend Senatoren, die seit Temers Amtsantritt am 12. Mai öffentlich angekündigt haben, ihre endgültiges Stimmverhalten noch einmal zu überdenken. Er hatte bei der ersten Abstimmung ebenfalls für eine Amtsenthebung votiert. „Die Krise in der Temer-Regierung wird meine Meinung und die der Mehrheit beeinflussen“, sagte Gurgacz der Tageszeitung „Folha de S. Paulo“. Im Fall weiterer Fehltritte der Übergangsregierung könne sich der Wind noch einmal drehen.

Für ein geändertes Ergebnis müssten sich nur wenige Senatoren umentscheiden. Die erste Abstimmung zugunsten von Rousseffs Suspendierung ging 52 zu 22 aus - das war nur eine Stimme mehr als das zur dauerhaften Absetzung notwendige Minimum.


Pakt mit Petrobas?

Fraglich ist, wie schwer im Licht der neuen Skandale die Anschuldigungen gegen die Präsidentin nach Ansicht der Senatoren noch wiegen. Rousseff werden Verstöße bei der Führung der Staatsfinanzen vorgeworfen, um ein riesiges Haushaltsdefizit zu verschleiern. Sie hat dies wiederholt zurückgewiesen.

Stattdessen wittern die Staatschefin und ihre Anhänger hinter dem Amtsenthebungsverfahren den Versuch, die Ermittlungen gegen den staatlichen Ölkonzern Petrobras wegen Korruption in Milliardenhöhe zu stoppen. Im Zuge der Untersuchungen wurden in den vergangenen zwei Jahren Dutzende Unternehmer und ranghohe Politiker festgenommen, vor Gericht gestellt und zu Haftstrafen verurteilt.

Rousseff hat zwar politisch für den Skandal bezahlt: Viele der Verbrechen ereigneten sich während der 13-jährigen Regierungszeit ihrer Arbeiterpartei. Dennoch hat sie sich stets geweigert, in den Prozess einzugreifen, den sie als dringend notwendig für das Land verteidigte.

Den Medien zugespielte Aufzeichnungen scheinen die Vermutung zu stärken, dass es bei der Amtsenthebung in Wahrheit um Petrobras geht. Die Aufnahmen tauchten wenige Wochen nach Temers Amtsantritt auf. In einer davon spricht dessen Parteifreund und Planungsminister Romero Juca offen von einem „Pakt“ zwischen Politik, Medien und Justiz, um Rousseff loszuwerden und die Petrobras-Ermittlungen zu stoppen.

Nach dem Leak verabschiedete sich Juca abrupt in eine Auszeit. Wenige Tage später trat auch der für Korruptionsbekämpfung zuständige Minister Fabiano Silveira wegen ihn beschuldigender Aufzeichnungen zurück. Auch von brisanten Gesprächen weiterer ranghoher Politiker tauchten Mitschnitte auf. Es wird vermutet, dass die Aufnahmen von dem Exsenator Sergio Machado stammen. Der frühere Chef einer anderen staatlichen Ölfirma, Transpetro, stand selbst im Visier der Untersuchung, bis er sich auf einen Deal mit den Ermittlern einigte.

Temer steht nun mit dem Rücken zur Wand. In der vergangenen Woche versicherte er „zum zigsten Mal“, dass es bei der Petrobras-Untersuchung keine Kompromisse geben werde. Kurz darauf wies er in einer Pressekonferenz Berichte zurück, wonach zwei seiner Minister wegen Korruptionsvorwürfen entlassen werden sollten.

Doch trotz aller Tumulte bei der Übergangsregierung wäre eine Rückkehr Rousseffs in den Augen vieler auch keine Lösung. Ihre Regierung war in den letzten Monaten wie gelähmt. Die Umfragewerte der einst beliebten Präsidentin fielen bis auf zehn Prozent, mehr als 60 Prozent der Brasilianer sprachen sich für ihre Absetzung aus. Zudem ächzt die größte Volkswirtschaft Lateinamerikas unter der schwersten Rezession seit den 30er-Jahren.

Eine wachsende Gruppe von Abgeordneten setzt deswegen auf Neuwahlen. Dafür müssten sowohl Rousseff als auch Temer zurücktreten oder abgesetzt werden.

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