Liu Ling freut sich auf das Frühlingsfest, das China in diesen Tagen feiert. Dann wird sie zehn Stunden in einem Bus sitzen, der sie in ihre Heimat bringt, ein Dorf in der Provinz Anhui. Für Liu Ling ist das etwas ganz Besonderes: Nach einem Jahr Arbeit in der Stadt darf sie endlich ihre fünfjährige Tochter wiedersehen.
Aber noch ist in Liu Ling in Shanghai. Die 33-Jährige sitzt auf einem fleckigen Laken, ringsumher stapeln sich zwei alte Fernseher, Essen in Plastikboxen, Kleidung, Werkzeuge und Müll. Der Raum, in dem sie mit ihrem Mann lebt, ist ungeheizt, die Wände sind schmutzig. Ihre Finger zupfen an den Ärmeln ihres Anoraks herum, sie blickt zu Boden. „Das Geld reicht nicht, um unsere Tochter hier auf die Schule zu schicken. Wir müssen so viel sparen wie möglich“, sagt sie.
250 Millionen Wanderarbeiter
Liu Ling und ihr Mann gehören zu den 250 Millionen Wanderarbeitern, ohne die Chinas Aufstieg und Wohlstand nicht möglich gewesen wäre. Nur sie selbst sind dabei nicht reich geworden. Beide arbeiten täglich zwischen acht und zwölf Stunden. Auf die Frage, was sie in ihrer Freizeit tue, hat Liu keine Antwort. Sie arbeitet als Hausangestellte und bekommt 2500 Yuan im Monat, etwa 300 Euro. Ihr Mann verdient als Bauarbeiter ebenso viel. Obwohl Liu seit acht Jahren in Shanghai lebt, hat sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen wie Kranken- oder Arbeitslosenversicherung. Deshalb legen die beiden die Hälfte ihres Verdienstes zurück: für den Fall, dass sie ihre Jobs verlieren, für die Ausbildung ihrer Tochter, für Medikamente oder Krankenhausaufenthalte, für das Alter.
Was übrig bleibt, geht für Miete, Strom, Wasser und Nahrung drauf. Damit verdienen die beiden noch verhältnismäßig gut: Das durchschnittliche Monatseinkommen von chinesischen Wanderarbeitern lag 2011 bei etwas über 2000 Yuan (rund 250 Euro).
Zu geringer Konsum
Hinter diesen Zahlen verbergen sich nicht nur menschliche Tragödien. Auch hemmt die Armut der Wanderarbeiter Chinas wirtschaftliche Entwicklung. Wer wenig hat und viel spart, kann wenig ausgeben. Dabei will die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt künftig stärker durch den Konsum als durch Exporte wachsen. Seit Jahren predigt Chinas Regierung den Umbau der Wirtschaft: weg von der Ausfuhr von Billigwaren, hin zu mehr Binnennachfrage.
Zwar wuchsen die Ausgaben der privaten Haushalte seit 1995 im Schnitt um 8,5 Prozent pro Jahr. Dennoch stellt der Konsum einen immer geringeren Anteil am Bruttoinlandsprodukt (BIP): Von 2000 bis 2010 schrumpfte er von 46 auf 34 Prozent. Zum Vergleich: In Deutschland lag der Anteil 2011 bei 57 Prozent, in den USA bei 72 Prozent. Gleichzeitig hat China eine der weltweit höchsten Sparquoten: Nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds legen die Haushalte 30 Prozent ihres verfügbaren Einkommens zurück.
Geld für Kinder
„Um den Konsum zu erhöhen, brauchen die Menschen ein besseres Sicherheitsnetz“, sagt Edward Tse von der Unternehmensberatung Booz & Company. „Viele Chinesen fühlen sich unsicher, weil sie keine Rentenversicherung haben und die Krankenversicherung nur kleine Fälle abdeckt.“ Außerdem legen sie Geld für ihre Kinder zurück. Ganz besonders gilt das für Menschen wie Liu, die aufgrund ihrer Geburt in einer ländlichen Gegend kein Anrecht auf Sozialleistungen haben.
Schuld daran ist ein veraltetes Meldesystem aus den Gründungszeiten der Volksrepublik. Seit 1958 teilt es die Bürger in Stadt-oder Landbewohner ein. Der qua Geburt erlangte Status prägt das ganze Leben. Wer in der Stadt gemeldet ist, ein Stadt-Hukou besitzt, hat Anrecht auf Sozialleistungen und kann seine Kinder auf eine staatliche Schule in der Stadt bringen. Wer ein Land-Hukou hat, genießt alle diese Rechte nicht – egal, wie lange er in einer Stadt wohnt. Sein Schicksal ist an die heimische Scholle gebunden. Dort, so die ursprüngliche Idee, ist sein Platz, um die Städter zu ernähren.
Vom Land in die Stadt
„Das System war einmal sinnvoll“, sagt Tom Miller vom Analystenhaus Dragonomics in Peking. „Es verhinderte, dass sich in China wuchernde Slums wie in Afrika oder Indien bildeten.“ Heute aber führt das Meldesystem genau zu dem, wovor es einst schützen sollte: Seit der wirtschaftlichen Öffnung drängen immer mehr Chinesen in die Städte, um in den Fabriken und Baustellen der boomenden Städte zu arbeiten. Dort verdienen sie zwar wenig, aber immer noch mehr als zu Hause auf dem Land.
Chinas Regierung will die Urbanisierung, bis 2030 soll eine Milliarde Chinesen in Städten leben. Stolz vermeldete Peking 2011, dass erstmals in der Geschichte Chinas mehr als 50 Prozent der Einwohner in Städten lebten. Doch nur 35 Prozent von ihnen gelten offiziell als Stadtbewohner. Laut Miller sind in Peking nur 14 Millionen von 20 Millionen Einwohnern auch Stadtbürger.
Bauern in einer Metropole
Miller ist Autor des Buches „China’s Urban Billion“. Darin zeichnet er ein düsteres Bild der Zukunft, sollte das Hukou-System nicht reformiert werden: neue Slums mit Millionen von Bürgern zweiter Klasse, die Arbeiten verrichten, die sonst niemand tun will. „Befreit man diese Leute nicht aus ihrer Armut, bleibt die Konsumquote gering“, warnt Miller. „Und immer mehr Leute vom Land werden frustriert sein – was zu politischer Instabilität führen kann.“
Der Ort, an dem Liu lebt, ist ein Dorf mitten in der Stadt. 20 Minuten sind es mit dem Auto von Shanghais Innenstadt an die Stelle, an der sich die Schnellstraße S 20 und ein Kanal kreuzen, in dem graubraunes Wasser eher steht als fließt. Weiter entfernt ragen acht Hochhäuser in den Himmel. Die Siedlung ist mit einer Mauer von der Schnellstraße getrennt. An den Wänden der Häuser hängen Würste zum Trocknen, räudige Hunde streunen herum. Es ist kein Slum, wie man ihn aus afrikanischen Ländern kennt. Chinas Arme wohnen nicht in Wellblechhütten. Sie leben wie arme Bauern mitten in einer Metropole.
Warmes Wasser
„3000 oder 4000 Menschen wohnen hier“, schätzt Wang Longyuan. Er kennt viele von ihnen. Wang ist 54 Jahre alt und lebt seit zehn Jahren in Shanghai. Er öffnet die Klappe des Ofens, wirft ein Stuhlbein in das Feuer. Hinter ihm ein Stapel von Holz, daneben eine Pritsche, Wangs Bett, und ein kleiner Tisch, auf dem ein Fernseher läuft. Ein junger Mann kommt, füllt dampfendes Wasser in eine schmutzige Thermoskanne und lässt ein paar Münzen zurück. In der Siedlung gibt es weder Heizung noch warmes Wasser.
Wang sagt, er arbeite jeden Tag von sechs Uhr morgens bis elf Uhr nachts. Etwa 2000 Yuan, rund 250 Euro, verdient er so. Davon muss er Holz und alle zwei Jahre einen neuen Ofen kaufen. „Aus ganz China kommen sie hierher“, sagt er. „Aber reich wird hier keiner. Manche können sich nicht einmal mehr ein Rückfahrticket leisten.“ Wang selbst stammt aus der Provinz Anhui. Seine ganze Familie lebe mittlerweile hier. Damit hat es Wang zumindest besser als Liu Ling, die ihre Tochter nur einmal im Jahr sieht.
Kinder bei den Großeltern
Viele junge Paare lassen ihre Kinder bei den Großeltern auf dem Land zurück. Ihr Land-Hukou erlaubt es ihnen nicht, die Kinder in der Stadt auf die Schule zu schicken. Selbst wenn die Eltern sich die Schulgebühren leisten können, müssen die Kinder die Abschlussprüfungen an ihrem Heimatort absolvieren, an dem andere Lehrpläne gelten. 58 Millionen Kinder wachsen in China derzeit ohne ihre Eltern auf.
Corinne Hua kennt die Problematik: Die Britin ist Gründerin von Stepping Stones, einer Hilfsorganisation, die Englischlehrer für Kinder von Wanderarbeitern vermittelt. Zwar legen die meisten Job-Nomaden rund die Hälfte ihres Einkommens zurück. Im Krankheitsfall reichten die Ersparnisse aber meist nicht. Hua erzählt von einem Mann, der drei Mal in der Woche auf eine Dialyse angewiesen war: 6000 Yuan, rund 730 Euro, musste die Familie aufbringen. Die Schwester des Mannes ließ Ehemann und Kinder zurück und flüchtete vor der finanziellen Belastung in eine andere Stadt.
Selten Zorn oder Frustration
„Eine Reform des Hukou-System würde diesen Leuten helfen, da sie so zumindest eine Kranken- und Rentenversicherung hätten“, sagt Hua. „Momentan sind sie Bürger zweiter Klasse.“ Trotzdem stößt die ehemalige Personalmanagerin bei diesen Menschen nur selten auf Zorn oder Frustration. „Sie erwarten nichts von der Regierung. Alles, was sie wollen, ist, mehr Geld verdienen als auf dem Land.“
Auch Zhou Haitiao ist nicht zornig. Gerade erst ist der 36-Jährige aus seinem Heimatdorf in der Provinz Jiangsu auf einer der zahlreichen Baustellen Shanghais angekommen. Die Luft ist gelblich grau und kratzt im Hals und sei „very unhealthy“, warnt das amerikanische Konsulat, das eine Messstation unterhält. Doch Zhou strahlt. „Wo ich lebe, ist mir egal“, sagt der Bauarbeiter, dessen Frau und Kind in der Provinz blieben. „Ich gehe dorthin, wo ich Geld verdienen kann.“
Soziale Konflikte
Fakt ist: Für die Mehrheit der Chinesen geht es seit Jahren aufwärts. Rund 400 Millionen Menschen haben sich in den vergangenen 30 Jahren aus absoluter Armut befreit. Doch in jüngster Zeit mehren sich die Anzeichen, dass die sozialen Konflikte eskalieren. Zum ersten Mal seit 2000 veröffentlichte die Regierung im Januar wieder den sogenannten Gini-Koeffezienten, der die Wohlstandsverteilung innerhalb eines Landes misst. Null bedeutet völlige Gleichheit, 1 größtmögliche Ungleichheit.
Werte von über 0,4 lassen auf starke soziale Unzufriedenheit schließen. Der von der Regierung veröffentlichte Wert beträgt 0,47, die Universität in Chengdu kam gar auf 0,6. Kein Wunder angesichts von 2,7 Millionen Dollar-Millionären und 251 Milliardären im Land.
Die Regierung in Peking kennt das Problem
China steht nicht unmittelbar vor der Implosion, doch die Probleme von heute werden sich in den nächsten Jahren potenzieren. „Solange Wanderarbeiter in der Stadt mehr verdienen als auf dem Land, sind sie zufrieden“, sagt Analyst Miller. „Das aber wird sich ändern, wenn die Leute das Gefühl bekommen, die Regeln des Spiels seien langfristig gegen sie gerichtet.“
Der Regierung in Peking ist das Problem bekannt. „Auf dem Weg zur Wohlstandsgesellschaft sollten wir den nationalen Reichtum besser verteilen und mittleren und unteren Einkommensschichten ein größeres Stück vom Kuchen geben“, kommentierte Ma Jiantang, Vorsitzender des Nationalen Statistikbüros, die Veröffentlichung des Gini-Koeffezienten. Die Reform des Hukou-Systems wird daher im zwölften Fünf-Jahres-Plan explizit formuliert. Und tatsächlich gibt es hier und dort Fortschritte. In Shanghai existieren seit 2010 Schulen für Kinder von Wanderarbeitern. Sie bieten kostenlosen Unterricht bis zur neunten Klasse, obwohl ihr Budget nur halb so groß ist wie das der staatlichen Schulen. Experimente, das Meldesystem zu reformieren, fanden in Chongqing und Chengdu in Westchina statt.
Zögern vor einer Reform
Die Regierung in Peking zögert jedoch, die Reform des Meldesystems anzugehen. Die Machthaber halten das Hukou-System für einen Stabilitätsgaranten. Als in der Wirtschaftskrise Millionen Menschen in den Städten ihren Job verloren, kam es nicht zu Aufständen. Stattdessen fuhren die Wanderarbeiter zurück in ihre Dörfer.
Liu Ling aus Anhui interessiert sich nicht für Politik. Sie freut sich allein darauf, ihre Tochter wiederzusehen. „Meiner Tochter geht es viel besser als mir früher“, sagt sie. Liu ist Analphabetin. Damals, erklärt sie, habe man in ihrem Dorf nur die Jungen auf die Schule geschickt. Das sei jetzt anders.