Chinas Perlflussdelta Hightech statt Billigfabriken

Mit Milliardenhilfen wollte Peking das Perlflussdelta in einen modernen Standort verwandeln. Dann schlug die Wirtschaftskrise zu. Eine Reise durch die einstige Werkbank der Welt, die eine neue Identität sucht.

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Abhängen in der Soho-Bar: Die Stimmung in der coolsten Diskothek von Guangzhou ist fast schon wieder so ausgelassen wie vor der Krise Quelle: Stefen Chow für WirtschaftsWoche

Mit sanftem Plopp schließen die Türen, fast lautlos fährt der Expresszug T828 an, wird schneller und verlässt den Hong-Hom-Bahnhof im Hongkonger Stadtteil Kowloon. Die Passagiere, zumeist Touristen und chinesische Geschäftsleute, lehnen sich in die weichen Polster zurück.

An einem Tisch blättern vier Hongkong-Chinesinnen in Modezeitschriften. Die Managerinnen sind auf dem Weg zur Millionenmetropole Guangzhou, der Hauptstadt der Provinz Guangdong. Ihre Laptops haben sie aufgeklappt, auf den Bildschirmen bauen sich Konstruktionszeichnungen von Haushaltsgeräten und Geschirr auf. Designen lässt ihre Firma die Artikel in Hongkong, produziert wird in einer Billigfabrik im Perlflussdelta, der Boomregion zwischen Guangzhou, Hongkong, Shenzhen und Macau.

Wirtschaftliches Powerhaus

Ein Erfolgsmodell: Zwischen 1980 und 2007 wuchs die Wirtschaft hier um durchschnittlich 16 Prozent jährlich gegenüber 10 Prozent in ganz China. Die Region trägt mit vier Prozent der chinesischen Bevölkerung heute zwölf Prozent zur chinesischen Wirtschaftsleistung bei und rund ein Drittel zu den chinesischen Exporten. „Ein wirtschaftliches Powerhaus“, sagt Tom Miller, Chinaexperte bei Dragonomics, einem privaten Wirtschaftsforschungsinstitut.

Doch dieses Kraftwerk ist in die Jahre gekommen. Vor der untergehenden Sonne passiert der Zug Hongkongs Hochhausschluchten: gepflegte Apartmentsiedlungen, unterbrochen von palmenbewachsenen Hügeln – und dazwischen immer wieder Stapel leerer Container. Wegen der Exportflaute der Region gibt es in Hongkongs Hafen keinen Platz mehr für die ungenutzten Boxen.

Als im vergangenen Jahr die Weltwirtschaft kollabierte, rund um den Globus Börsenkurse und Wachstumsraten auf Talfahrt gingen, brach die Nachfrage in Amerika und Europa nach Waren aus dem Ausland schlagartig ein.

Krise führte zu Frachtrückgang für Containerschiffe

Die Ersten, die dies zu spüren bekamen, waren die Fabriken im Perlflussdelta, denen die Produktion, und die Reedereien, denen die Fracht für ihre Containerschiffe ausging. Das Perlflussdelta stürzte in eine tiefe Krise.

Als der Zug Festlandchina erreicht und die Grenze mit den Stacheldrahtverhauen hinter sich lässt, verändert sich die Landschaft. Kilometerweit reihen sich graue und blaue Fabrik- und Lagerhallen aneinander. Hier beginnt, was als Werkbank der Welt in die jüngste Wirtschaftsgeschichte einging. Die Billigfabriken des Perlflussdeltas lieferten alles, was preisbewusste Konsumenten im Westen nachfragten.

Einbrüche von 30 Prozent und mehr

Nun kämpfen viele Firmen, die im vergangenen Jahrzehnt mit Umsatzzuwächsen von 20 Prozent jährlich verwöhnt waren, mit Einbrüchen von 30 Prozent und mehr. Zwar hat sich die Stimmung in der Binnenwirtschaft dank der Konjunkturpakete Pekings wieder verbessert, die Talfahrt der Exportwirtschaft ist jedoch noch nicht vorbei. Im August schrumpften Chinas Ausfuhren im Jahresvergleich um 23 Prozent. Guangdongs Wirtschaftswachstum halbierte sich im ersten Halbjahr. „Das ist die schwerste Krise für Guangdong seit der Öffnung des Landes“, klagt Provinzgouverneur Huang Huahua.

Besonders hart hat es Dongguan erwischt, auf halber Strecke zwischen Hongkong und Guangzhou gelegen. Als der Zug in den Bahnhof einfährt, belagern Verkäuferinnen mit ihren fahrbaren Verkaufsständen die aussteigenden Fahrgäste. In der Abenddämmerung heben sich die Fabriken und Werkshallen ab. Vor vielen stehen Schilder mit der Aufschrift „zu verkaufen“.

Die 1,5-Millionen-Einwohner-Stadt ist die Kapitale der Sportartikelbranche, weltweit werden hier die meisten Turnschuhe, Lederbälle und Jogginghosen produziert. Um gerade mal 0,6 Prozent ist die Wirtschaft hier zwischen Januar und Juli gewachsen, nach durchschnittlich 18 Prozent jährlich in den vergangenen 30 Jahren. Die Schuhexporte fielen um 60 Prozent, die Ausfuhr von Elektronikprodukten um 31 Prozent, die Spielzeugexporte um 23 Prozent.

Nach vier Stunden fährt der Zug schließlich in den Hauptbahnhof von Guangzhou ein, die vier Managerinnen klappen ihre Laptops zu und verlassen den Bahnhof in Richtung Taxistand. Auf dem Bahnhofsvorplatz steht Zhang Cunfa. Der 36-jährige Bauarbeiter wartet auf den Zug nach Wang’an, einem Städtchen in der Provinz Sichuan. Zhang muss dort eine Behördenangelegenheit erledigen und will dann schnell wieder zurückkommen.

Neun Millionen Einwohner in Guangzhou

Im Gegensatz zu vielen anderen hat Zhang noch einen Job. Seit er 20 ist, arbeitet er auf den Baustellen von Guangzhou, um Büroräume, Fabrikhallen und Wohnungen für die schnell wachsende Stadt hochzuziehen. Neun Millionen Einwohner leben heute hier, und Jobs gab es reichlich. „Seit der Krise ist es aber nicht mehr so einfach“, erzählt er. Einige seiner Freunde haben ihre Stellen verloren.

Weil er fleißig ist, werden sie ihn wohl nicht so schnell feuern. Manchmal arbeitet er zwei Schichten am Tag, dann kommt er auf umgerechnet 450 Euro im Monat, von denen er einen Großteil auf die Seite legt. „Kein schlechtes Leben“, findet Zhang. In Sichuan verdienen die meisten nicht mehr als 60 bis 80 Euro im Monat.

In seiner Heimatstadt Wang’an warten seine Frau, die in einer Fleischfabrik arbeitet, und ein neunjähriger Sohn. Mit dem zusätzlichen Geld, das er nach Hause schickt, kann die Familie gut leben. „In ein paar Jahren haben wir genug gespart und kaufen uns ein Haus“, sagt Zhang. Dann will er in die Heimat zurück.

Mit diesen Überweisungen tragen Chinas Wanderarbeiter den Wohlstand von der Ostküste ins Hinterland. Diesem Transfer droht jedoch Gefahr. Durch die Krise haben bis zu 35 Millionen der 130 Millionen Wanderarbeiter ihre Jobs verloren, viele Millionen davon allein im Perlflussdelta. Ein Großteil kam nach dem chinesischen Neujahrsfest im Februar nicht mehr zurück, viele vagabundieren aber auch durch die Provinz, die Polizei klagt über steigende Kriminalität. Die öffentlichen Proteste nehmen zu, nicht nur von Arbeitern, die gegen Fabrikschließungen demonstrieren oder weil ihnen Lohnzahlungen verweigert wurden.

Von Immobilienfirma betrogen

Auf dem Weg zu einem Betrieb in Guangzhou hält der Fahrer plötzlich an einer Brücke, die über den Perlfluss führt. Passanten gaffen nach oben, Polizei, Presse und Fernsehen sind angerückt. Auf dem Brückenaufbau in rund 40 Meter Höhe steht ein Mann, schreit unverständliche Worte, schmeißt Flugblätter. Er droht, von der Brücke zu springen, lässt sich aber davon abhalten. Der Grund seiner Aktion: Beim Kauf einer Wohnung habe ihn ein lokaler Immobilienentwickler betrogen. Die Brücke war in jüngster Zeit schon häufiger Ort für solche Protestaktionen, erzählen Passanten, alle paar Tage klettere jemand nach oben, häufig sind es Opfer der Krise, die auf Missstände aufmerksam machen wollen.

Aber nicht allein die Wirtschaftskrise im Westen untergräbt die Exportwirtschaft im Perlflussdelta. Viele der von Hongkong-Chinesen, Taiwanern und Koreanern hochgezogen Fabriken hatten nur schmale Gewinnmargen. Die Unternehmen mussten hohe Stückzahlen produzieren, um auf Minirenditen zu kommen. Meist importieren sie Einzelteile, die hier nur zusammengebaut und dann in den Westen reexportiert wurden. Wertschöpfung war damit kaum verbunden.

Protest in 40 Meter Höhe: Ein Wohnungskäufer klagt die Immobilienfirma an Quelle: Stefen Chow für WirtschaftsWoche

Experten schätzen, dass von einem Laptop etwa, das in Deutschland 1000 Euro kostet, jeweils 300 Euro an Intel und Microsoft für Speicherchip und Software gehen, jeweils 150 Euro an die Lieferanten des CD-Laufwerks und der anderen elektronischen Komponenten. Die Tastatur schlägt mit bis zu 20 Euro zu Buche. So bleiben gerade 30 bis 40 Euro beim Hersteller in China.

Das soll sich ändern. Schon vor der Krise hatte die chinesische Regierung dem Perlflussdelta ein neues Wachstumsmodell verordnet. Die Provinz Guangdong sollte, wie schon vor drei Jahrzehnten, als hier die ersten Sonderwirtschaftszonen eingeführt wurden, Testlabor für Chinas neue Wirtschaftsreformen sein.

Arbeitsintensive Billigproduzenten sollten von Guangdong in den rückständigen Westen Chinas ziehen, um dort Jobs zu schaffen und hier Platz für innovative Unternehmen mit höherer Wertschöpfung. Die Behörden strichen Herstellern von Spielzeug, Bekleidung oder Schuhen Steuervorteile, erhöhten die Mindestlöhne und verschärften Umweltschutzvorschriften. High-Tech-Unternehmen genießen dagegen weiterhin Vergünstigungen bei der Körperschaftsteuer.

Nur ein Bruchteil bleibt in China

Viele Billigproduzenten zogen denn auch vom Perlflussdelta ab in den billigeren Westen Chinas oder auch nach Indien, Indonesien oder Vietnam. Von mehr als 60.000 Fabrikschließungen sprachen Hongkonger Unternehmerverbände schon im Sommer vergangenen Jahres.

Zwar stornierten die Behörden einige Anordnungen, um die Region vor dem totalen Absturz zu bewahren. Am Ziel des wirtschaftlichen Umbaus halten sie gleichwohl fest. Er werde keine „rückständigen Produktivkräfte stützen“, entgegnete Guangdongs KP-Chef Wang Yang, als Premierminister Wen Jiabao mehr Hilfen für kleinere Fabriken anmahnte.

Wer Guangdongs High-Tech-Zukunft sehen will, muss zu Chen Chunsheng gehen, dem Vizepräsidenten der Sun-Yat-sen-Universität in Guangzhou. Die Hochschule liegt in einem malerischen Park im Zentrum der Stadt und hat sich vor allem mit ihren Fakultäten für Medizin und Life Sciences einen Namen gemacht.

Der Strukturwandel sei überfällig, meint Chen. „Mit dem langen Boom sind die Arbeitskosten und der Lebensstandard stark gestiegen.“ Jetzt sei die Zeit zur Modernisierung der Industrie gekommen. Und daran will die Uni mitwirken – als schneller Brüter für innovative Unternehmen. Ein Vorbild hat Chen bereits: Vor wenigen Jahren gründeten junge Wissenschaftler der Sun-Yat-sen-Uni das Unternehmen Da An Genetic. Es ist auf neuartige Diagnoseverfahren etwa für die Lungenkrankheit SARS oder die Schweinegrippe spezialisiert, an der Börse Shenzhen gelistet und beschäftigt heute 800 Mitarbeiter. „Wir werden künftig noch viele solcher Ausgründungen fördern“, kündigt der Uni-Manager an.

Was Chen mit wissenschaftlichem Input anstrebt, versucht Ke Aiqun zwei Autostunden entfernt in Zhuhai mit Steuervergünstigungen und Mietzuschüssen. Zhuhai hat heute 1,5 Millionen Einwohner, 1979 war es noch ein Fischerdorf, als hier eine der ersten Sonderwirtschaftszonen Chinas eingerichtet wurde. Ke soll als Geschäftsführer High-Tech-Gründer und -Unternehmen in den Southern Software Park locken.

Damit hat er Erfolg. Fast 100 Firmen mit insgesamt 3000 Mitarbeitern forschen schon hier, darunter auch der deutsche Halbleiterhersteller Semikron. „Momentan verhandeln wir mit rund 20 weiteren Firmen“, verrät Ke.

Aber auch ohne Subventionen lassen sich High-Tech-Firmen in der Region nieder. Die Telekomausrüster Huawei und ZTE etwa haben ihre Zentralen in Shenzhen, der mit zwölf Millionen Einwohnern größten Stadt im Perlflussdelta. Mit ihren innovativen und kostengünstigen Produkten feiern die beiden Telekomausrüster auch im Ausland Riesenerfolge.

Viele kleinere Unternehmen, die nicht mehr nur einfache Produkte für den Export fertigen, haben sich ebenfalls in Guangdong angesiedelt. Die Firma Echom in der Provinzhauptstadt Guangzhou etwa ist erfolgreich mit dem Design von Chassis für Fernsehgeräte.

Trotz dieser High-Tech-Priorität werden auch die alten Industrien nicht völlig aus dem Perlflussdelta verschwinden. Zumal die Chinesen hier gewohnt pragmatisch vorgehen. Der Deutsche Thomas Schneider, Chef und Gründer der Ledergerberei Tantec in Guangzhou, hat zwar einen Teil der Produktion nach Vietnam verlagert, als die Umweltgesetze verschärft wurden. Doch seine Fabrik in Guangzhou will er halten, wegen der strategischen Bedeutung des chinesischen Marktes. Darum hat er die Gerberei jetzt mit modernsten Umwelt-Anlagen ausgestattet. So ist Tantec offiziell als High-Tech-Firma anerkannt.

Den Weg von Taiwan gehen

Davon profitieren auch die Arbeitskräfte, etwa die 32-jährige Xu Juan, die als Wanderarbeiterin vor zwölf Jahren nach Guangzhou kam. Seit neun Jahren arbeitet sie in der Gerberei. Von ihrem Lohn von etwa 300 Euro im Monat legt sie ein Drittel auf die Seite. Vorher hatte sie in einer Spielzeugfabrik gearbeitet. Da sei es überall dreckig gewesen, sie habe ständig Überstunden geschoben, und korrekt bezahlt worden sei sie auch fast nie, berichtet Xu. „Hier sind die Bedingungen viel besser“, sagt sie: „Im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen in Guangzhou halten sie sich hier an die Gesetze.“

Wie ihr Mann kommt sie aus der Provinz Guizhou, fast 900 Kilometer weiter westlich gelegen. In ihrer Familie hatte niemand die Chance, eine Schule oder gar eine Universität zu besuchen. Für die siebenjährige Tochter und den einjährigen Sohn schmiedet Xu große Pläne: „Mit unserem gesparten Geld werden unsere Kinder eine gute Schule und eine gute Uni besuchen können.“

Mit dieser Familienplanung liegt sie auf gleicher Linie mit Partei und Regierung, die das Perlflussdelta zu einer wissensbasierten Gesellschaft umbauen wollen. Dafür gibt es den Masterplan „Perlflussdelta 2020“. Er listet eine ganze Reihe von Einzelmaßnahmen auf: Steigerung der Forschungsausgaben der Provinz bis 2020 auf 2,5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, Kooperation mit Hochschulen im Ausland, neue Venture-Capital-Gesellschaften und Forschungsinstitute, Anwerbeprogramme für Talente aus dem Ausland sowie Ausbau des Dienstleistungssektors von 47 Prozent des BIPs auf 60 Prozent. Darüber hinaus soll die Infrastruktur mit Milliardeninvestitionen ausgebaut werden, um die rückständigeren Regionen des Perlflussdeltas an die entwickelten Teile anzuschließen.

„Der Weg von Taiwan und Südkorea ist für die Region absolut richtig“, sagt Graeme Maxton, Ökonom in Hongkong. „Wenn der Sturm vorüber ist, wird das Perlflussdelta gesünder dastehen“, glaubt auch Dragonomics-Experte Miller.

Kein Wunder, dass die Stimmung fast schon wieder Vorkrisenniveau erreicht. In Guangzhou treffen sich die Jungmanager abends in der Soho-Bar. Aus den Lautsprechern dröhnt chinesischer Rap, Scheinwerfer tauchen die Diskothek in buntes Licht. Auf der Tanzfläche drängen sich Mädchen in knappen Shorts und noch knapperen Tops. Es geht auf Mitternacht zu, schon seit Stunden lassen die Türsteher keinen mehr rein, der Club ist überfüllt. „Das Schlimmste scheint vorbei zu sein“, sagt Paco Chen, Chef eines Handelshauses – und bestellt noch eine Flasche Champagner.

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