WirtschaftsWoche: Herr Stanzel, Sie sind Botschafter in China und Japan gewesen, beschäftigen sich seit dem Ende Ihrer Amtszeit auch wissenschaftlich mit der Region. Überrascht es Sie, dass Chinas Präsident Xi Jinping gleich drei Tage zu Besuch bei Russlands Staatschef Wladimir Putin gewesen ist?
Volker Stanzel: Ja, die Dauer dieser Reise ist bemerkenswert. China hatte sich in den drei Covidjahren von der Weltbühne quasi zurückgezogen, nun kehrt es langsam zurück. Xi war im September auf Stippvisite im usbekischen Samarkant, im Dezember dann in Saudi-Arabien, er vermittelte zwischen Saudi-Arabien und dem Iran, und der Besuch in Moskau soll nun ganz klar signalisieren: Wir sind wieder da – und zwar stärker als zuvor.
Dass Xi kurz nach dem Jahrestag von Russlands Invasion in der Ukraine kommt, ist freilich kein Zufall. Ist die Reise auch als Anerkennung für Putin zu sehen?
Xi stellt sich mit Aplomb an Russlands Seite, immerhin drei Tage lang! Denn kurz vor dem Kriegsbeginn hatten Xi und Putin zwar bekundet, dass ihre Freundschaft keine Grenzen kenne – aber Russland dürfte sich sowohl moralisch als auch materiell mehr Unterstützung versprochen haben, als es von China bekommen hat. Xi dürfte mit der Reise demonstrieren wollen, dass es mit der vermeintlich ewigen Freundschaft nicht so schlecht bestellt ist, wie es der Westen gehofft hat.
Sowohl Xi als auch Putin haben sich während des Besuchs als große Staatsmänner inszeniert. Wer von beiden profitiert am Ende aber mehr von dem dreitägigen Treffen?
Jeder profitiert auf seine Weise. Putin kann nicht nur nach Außen, sondern auch seinen Kritikern in der russischen Führung beweisen, dass China an seiner Seite steht. Und Xi zeigt, dass er zurück auf der Weltbühne ist. Beide sind getrieben von dem Wunsch, Imperien zu schaffen. Das wurde auch in den Texten deutlich, die beide in den Zeitungen des jeweiligen Landes vorher veröffentlicht haben. Darin beschreiben sie, dass es eine neue Weltordnung braucht und sie dafür sorgen wollen, dass es sie geben wird.
Zur Person
Dr. Volker Stanzel ist ehemaliger deutscher Botschafter in China und Japan sowie Politischer Direktor im Auswärtigen Amt. Er ist zudem Senior Distinguished Fellow in der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, unterrichtet an der Hertie School of Governance in Berlin. Stanzel ist Präsident des Verbandes Deutsch-Japanischer Gesellschaften, Vorstandsmitglied des Deutsch-Japanischen Wirtschaftskreises und des Akademischen Konfuzius-Instituts der Universität Göttingen, publiziert zu ostasienkundlichen und politikwissenschaftlichen Themen; Bücher: „Die ratlose Außenpolitik und warum sie den Rückhalt der Gesellschaft braucht“, „Die neue Wirklichkeit der Außenpolitik“.
Und wie soll diese neue Weltordnung à la Xi und Putin aussehen?
Beide sprechen von einer multipolaren Weltordnung. Ohne Rücksicht auf internationale Rechtssysteme können starke Staaten in solch einer „multipolar“ genannten Welt ihre Durchsetzungsfähigkeit unter Beweis stellen – und dazu gehört gegebenenfalls auch, sich andere Länder einzuverleiben. So, wie es Russland mit der Ukraine will und so, wie es China mit Taiwan vorhat.
Das klingt allerdings nicht danach, als könnte China als Vermittler im Krieg in der Ukraine auftreten. Wird Xi also nicht die Friedenstaube sein, als die er sich mit seinem 12-Punkte-Plan angeblich anbietet?
Nein, Xi kommt sicher nicht als Friedenstaube angeflattert. Er selbst spricht ja auch gar nicht von einer Friedensinitiative. Wäre Peking daran ernsthaft interessiert, hätte es sich jüngst mit dem ganzen Gewicht einer Weltmacht in die Verhandlungen in der UN-Generalversammlung über die schließlich von 141 Staaten verabschiedete Resolution einbringen können. An derart mühsamer Vermittlungsarbeit zeigte Peking sich aber nicht interessiert. Stattdessen präsentierte es am Ende der Woche ein eigenes Positionspapier. Das soll zeigen: Wir sind hier, wir wollen mitspielen – aber wird ordnen uns sicher nicht den Regularien einer Generalversammlung unter.
Xi beobachtet sehr genau, wie der Westen auf Russlands Krieg in der Ukraine reagiert. Dient er als eine Art Blaupause für Chinas möglichen Einmarsch in Taiwan?
Russlands Krieg und die Reaktionen darauf sind eine enorme Lernerfahrung für Peking. Dabei geht es vor allem um die Reaktionen der USA. Mit welchen Waffen unterstützen sie die Ukraine, welche finanziellen und wirtschaftlichen Sanktionen werden verhängt und wie fest ist die Einheit des Westens und der 141 Staaten, die den Krieg verurteilen? Das hat China in der Praxis einer größeren Auseinandersetzung mit einem anderen Land selbst noch nicht in dieser Form ausprobieren können – und dürfte die Signale des Westens gut zu deuten wissen.
Und zwar?
Hütet euch, wenn ihr über Taiwan nachdenkt.
Worum geht es bei dem Streit um Taiwan?
Der kommunistische Machtanspruch geht auf die Gründungsgeschichte der Volksrepublik China zurück. Nach der Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten zog die nationalchinesische Kuomintang-Regierung mit ihren Truppen nach Taiwan, während Mao Tsetung 1949 in Peking die Volksrepublik ausrief. Der heutige Staats- und Parteichef Xi Jinping sieht eine „Vereinigung“ mit Taiwan als „historische Mission“.
Stand: September 2023
Die Insel zwischen Japan und den Philippinen hat große strategische Bedeutung. US-General Douglas MacArthur bezeichnete Taiwan einst als „unsinkbaren Flugzeugträger“ der USA. Eine Eroberung durch China wäre ein wichtiger Baustein in dessen Großmacht-Ambitionen, weil es das Tor zum Pazifik öffnen würde.
China zwingt jedes Land, das diplomatische Beziehungen mit Peking haben will, keine offiziellen Kontakte mit Taiwan zu unterhalten. Es ist vom „Ein-China-Grundsatz“ die Rede. Danach ist Peking die einzige legitime Vertretung Chinas. Auf chinesischen Druck wurde Taiwan aus den Vereinten Nationen und internationalen Organisationen ausgeschlossen. Nur wenige kleinere Länder unterhalten noch diplomatische Beziehungen. Deutschland oder die USA betreiben nur eine inoffizielle Vertretung in Taipeh.
Die Taiwaner verstehen sich mehrheitlich längst als unabhängig und wollen zumindest den Status quo wahren. Auch wollen sie als Demokratie international anerkannt werden und sich keinem diktatorischen System wie in Festlandchina unterwerfen. Die frühere Kuomintang-Regierung hatte einst selber einen Vertretungsanspruch für ganz China, was sich bis heute im offiziellen Namen „Republik China“ widerspiegelt. Dieser Anspruch wurde 1994 aufgegeben. Damals wandelte sich Taiwan von einer Diktatur zu einer lebendigen Demokratie. Jede Veränderung des Status quo müsste aus Sicht der Regierung heute demokratisch von den 23 Millionen Taiwanern entschieden werden.
Experten gehen davon aus, dass ein Krieg um Taiwan massive und größere Auswirkungen hätte als der Angriff Russlands auf die Ukraine - auch auf Deutschland. Taiwan ist Nummer 22 der großen Volkswirtschaften, industriell weit entwickelt und stark mit der Weltwirtschaft verflochten. Ein Großteil der ohnehin knappen Halbleiter stammen von dortigen Unternehmen. Wegen der großen Abhängigkeit vom chinesischen Markt wären deutsche Unternehmen massiv betroffen, wenn ähnlich wie gegen Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen China verhängt werden sollten.
Stand: September 2023
Wenn Xi ernsthaft vermitteln will, müsste er auch mit Wolodymyr Selenskyj sprechen. Erwarten Sie ein Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten nach seiner Rückkehr aus Moskau?
Da bin ich gespannt, denn Xi wird ein Entgegenkommen aus Kiew erwarten – das wird es aber nur geben, wenn sich auch Russland bewegt. Und genau das hat Russland bisher offensichtlich nicht vor, wie beim Treffen deutlich geworden ist.
Während Xi in Moskau war, ist Japans Premier Fumio Kishida nach Kiew gereist, das Land hat derzeit auch den G-7-Vorsitz inne. Will Kishida damit ein Gegengewicht bilden?
Ja, Japan ist lange sehr zurückhaltend gewesen, das liegt auch an der geopolitischen Lage, da Russland und China mächtige direkte Nachbarn sind. Dass Kishida nun nach Kiew gereist ist, ist deshalb nicht nur ein mutiges, sondern auch ein wichtiges Signal: Es gibt nicht nur China, sondern auch ein anderes Asien, das fest an der Seite der Ukraine steht.
Kaum ist Chinas Staatschef Xi Jinping wieder zu Hause, bekommt er am Wochenende selbst Besuch, Brasiliens Präsident Lula da Silva ist zu Gast in Peking, auch er hatte sich zuletzt als Vermittler im Krieg angeboten. Steht die Ukraine bei dem Treffen im Vordergrund oder geht es eher um bilaterale Themen?
Lula ist ein sozialistischer Politiker, der womöglich noch ein nostalgisches Gefühl der Nähe zum ehemals kommunistischen China verspürt, was aber durch dessen reale Politik längst nicht mehr abgebildet wird. Die sogenannten Brics-Staaten, zu denen neben Brasilien und China auch Russland, Indien und Südafrika gehören, versuchen gemeinsam, ein Gegengewicht zum Westen zu bilden – allerdings kommt dieser Versuch schon seit Jahren nicht voran, weil die Interessen am Ende noch zu unterschiedlich sind.
Was ist die Konsequenz?
Leichter sind Kooperationen auf bilateraler Ebene, deshalb wird sich jetzt sicher um Themen wie etwa Zoll- und Handelserleichterungen gehen.
Auch die Bundesregierung umgarnt Brasilien, gerade erst war Wirtschaftsminister Robert Habeck dort zu Gast. Ist China aber für Lula am Ende der bequemere Partner?
Nein, sicher nicht, China geht sehr machtbewusst und ohne Rücksicht vor, wenn jemand finanziell in der Klemme sitzt, wird das zum eigenen Gunsten ausgenutzt. Mit seinem Projekt der Neuen Seidenstraße kauft sich China etwa ganz strategisch in die Infrastruktur vieler Länder ein. Chinas Ziel innerhalb der Brics-Staaten ist deshalb sicher keine Partnerschaft auf Augenhöhe, sondern die Länder zu dominieren und sie als Instrument für den Ausbau seiner eigenen globalen Macht zu nutzen.
Deutschland will künftig unabhängiger von China werden, die Bundesregierung erarbeitet derzeit deshalb eine China-Strategie. Was kann eine solche Strategie leisten?
Tatsächlich will sich ja nicht nur Deutschland von der Abhängigkeit lösen, sondern auch China, das deshalb auf seine Strategie der „zwei Kreisläufe“ setzt. Doch auch wenn sich insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen aus Deutschland zunehmend umorientieren, um Klumpenrisiken abzubauen, ist das mit Blick auf die Rohstoffe noch schwierig, Deutschland hängt etwa im Bereich der Seltenen Erden fast hundertprozentig von China ab.
Kann Japan bei der Rohstoffbeschaffung als Vorbild dienen?
Ja, Rohstoffe waren deshalb gerade ein großes Thema bei den deutsch-japanischen Regierungskonsultationen. Japan hat sich seit der Auseinandersetzung mit China 2010 zunehmend unabhängig von der Volksrepublik gemacht, alternative Lieferanten gesucht und größere Vorräte von kritischen Rohstoffen angelegt. Aber das gelingt eben nicht von heute auf morgen. Deshalb ist es wichtig, dass Deutschland seine Diversifizierungsbemühungen weiter konsequent umsetzt – gerade auch mit Blick auf die weiteren Konflikte, die sich in Zukunft mit China anbahnen könnten.
Lesen Sie auch: Wie die Partnerschaft mit Russland von den Chinesen genutzt wird