Chinas Sozialkreditsystem Für Unternehmen geht es um „Leben oder Tod“

Chinas Sozialkreditsystem: Deutsche Unternehmen nicht vorbereitet Quelle: imago images

China plant bis 2020 die Einführung eines Sozialkreditsystems, das jeden Bürger und jedem Unternehmen eine Note gibt. Auch deutsche Firmen wird das treffen – sie sind darauf allerdings kaum vorbereitet. Die Handelskammern schlagen Alarm.

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Als Präsident der Europäischen Handelskammer in Peking ist Jörg Wuttke ein intimer Kenner chinesischer Politik und Wirtschaft. Wuttke war einer der ersten, der schon vor Jahren auf die „Made in China 2025“-Strategie einging, mit der die chinesische Führung das Land zu einer industriellen Supermacht umbauen und Weltmarkführer in allen erdenklichen Bereichen hervorbringen will.

Erst nachdem Wuttke und die EU-Handelskammer auf das Thema aufmerksam machten, begann auch in Brüssel und Berlin eine mehr oder weniger ernsthafte Debatte darüber, wie mit Chinas industriepolitischen Plänen umzugehen sei.

Wuttke sieht nun erneut den Zeitpunkt gekommen, die Alarmglocken zu läuten. Eine Woche, bevor Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nach China reist, hat seine Handelskammer ein neues Positionspapier herausgebracht. Das Thema dieses Mal: Chinas umstrittenes Sozialkreditsystem. „Wir sind hier alle vom Hocker gefallen“, berichtet Wuttke über den Moment, als er und sein Team sich von Experten im Detail über die Pläne der chinesischen Regierung aufklären ließen. Ein „radikaler Wandel“ sei in Sicht, heißt es nun in dem am Mittwoch vorgestellten Positionspapier der EU-Kammer. Demnach sei es „zutiefst besorgniserregend“, in welch geringem Ausmaß Firmen für die anstehenden Veränderungen in China vorgesorgt
hätten. Das Sozialkreditsystem zur Bewertung und Kontrolle von Firmen könne dabei „Leben oder Tod für einzelne Unternehmen“ bedeuten.

Berichte über das chinesische Sozialkreditsystem gibt es schon lange. Es soll Vertrauenswürdigkeit ermitteln und zwischen „guten“ und „schlechten“ Bürger unterscheiden. In Pilotprojekten gibt es etwa Punktabzüge für Regelverstöße, Verkehrsvergehen oder Zahlungsverzug bei Rechnungen. Auch allzu kritische Äußerungen in sozialen Medien könnten eines Tages dazu führen, dass jemand im Punktesystem nach unten rutscht, warnen Kritiker. Allerdings stehen viele Details noch nicht fest.

Geplant ist, dass nicht nur Einzelpersonen, sondern eben auch Unternehmen genauer unter die Lupe genommen werden. Aus Sicht der EU-Kammer geht dieser Punkt vor allem im Ausland in der öffentlichen Wahrnehmung weitestgehend unter.
Für Wuttke ist es dabei zu früh, das System auf ein Überwachungstool eines totalitären Staates zu reduzieren. Wer sich genau mit dem Thema beschäftige, „fange oft mit Orwell an und komme bei Hemingway raus“, sagt Wuttke. Wichtig sei nun vor allem, dass Peking mehr Informationen bereitstelle, damit sich Unternehmen besser vorbereiten und Deutschland und die EU anfangen könnten, sich zu positionieren.

Firmen in China sind schon jetzt diversen Ratings unterworfen. Künftig sollen all diese Informationen laut EU-Kammer zu einer Gesamtnote zusammengeführt werden. Mehr als 300 Kriterien könnten einfließen. Ein Computer-Algorithmus wertet alles aus und spuckt am Ende eine Punktzahl aus.

Höhere Punktzahlen können niedrigere Steuersätze, bessere Kreditbedingungen, einfacheren Marktzugang und mehr öffentliche Beschaffungsmöglichkeiten für Unternehmen bedeuten, so die EU-Kammer. Niedrigere Punktzahlen führen zum Gegenteil und können sogar zu einem Marktausschluss führen.

„In mancher Hinsicht sind das gute Nachrichten“, schreibt gleichwohl die EU-Kammer in ihrem Bericht. Das vollautomatisierte System zur Überwachung könnte so dafür sorgen, dass alle Firmen gleich behandelt würden. Auch soll das System Anreize schaffen, mit denen sich Unternehmen gegenseitig kontrollieren. Verstößt ein Zulieferer gegen Umweltvorschriften, würde auch das Rating des Auftraggebers leiden. Der würde also wiederum animiert, genauer auf die Bedingungen beim Geschäftspartner zu achten.

Zu Abzügen für Firmen könnten aber auch Mängel beim Arbeitsschutz oder andere Verstöße gegen Sicherheitsregeln führen. Steuerdelikte wirken sich ebenfalls negativ aus. Das Rating einer Firma würde auch darunter leiden, wenn der Geschäftsführer auf seinem persönlichen Punktekonto Abzüge erleidet, erklärte die EU-Kammer.

Auch die Deutsche Handelskammer wünscht sich eine breite Debatte zum Thema. Gleichzeitig mit der Präsentation der EU-Kammer warnt sie davor, dass die Einführung des Systems mit zahlreichen Ungewissheiten verbunden sei. Unklar sei etwa noch, wie verschiedene Bewertungskriterien gewichtet würden. Das System, in dem alle Daten zusammengeführt werden, beruhe auf einem „intransparenten Algorithmus“, moniert die Deutsche Handelskammer.

Rund ein Jahr vor der geplanten Einführung zeige sich, dass knapp sieben von zehn deutschen Unternehmen in China nicht mit dem System, seiner Wirkungsweise und Zielsetzung im Geschäftskontext vertraut sind, ergab eine Umfrage der Kammer.

Aus Sicht der deutschen Wirtschaft seien eine Koppelung an rechtsstaatliche Prinzipien und transparente, nachvollziehbare Regeln eine Grundvoraussetzung für ein derartiges Bewertungssystem. Die Datenabfrage sollte sich auf das notwendige Minimum beschränken. Dann könnte ein solches System beispielsweise helfen, andere Unternehmen besser einzuschätzen, bevor eine Geschäftsbeziehung zu ihnen eingegangen oder vertieft würde.

„Es fehlen substanzielle Informationen zur Systematik und Funktion des Scoring-Systems sowie über vorzubereitende Maßnahmen“, so die Deutsche Handelskammer, die mehr Transparenz von Peking einforderte.

Doch auch dort scheint die Unsicherheit noch groß zu sein. Kenner sagen, dass im chinesischen Staatsrat Uneinigkeit darüber herrsche, wie genau und in welcher Tiefe das System implementiert werden soll. Durchaus gebe es auch hier Stimmen, die es bevorzugen würden, die Wirtschaft in ohnehin schwierigem Fahrwasser nicht mit zusätzlichen Belastungen zu konfrontieren. In jedem Fall sei jetzt der richtige Zeitpunkt, dass ausländische Regierungen ihre Bedenken anmelden und mit Peking ins Gespräch kämen, sagte eine mit den Vorgängen vertraute Person.

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