Es ist ein ungewöhnlich geschäftiges Wochenende in Washington. Bis Montag Tage haben die beiden Parteien Zeit, einen Kompromiss zu finden und den Sprung über die „Fiscal Cliff“ zu vermeiden. Bis in die Nacht wurden am Samstag Papiere hin und her geschoben, über Details verhandelt und über neue Steuersätze debattiert. Am Sonntagnachmittag – spätestens – wollen die führenden Demokraten und Republikaner im Senat einen Deal ausgearbeitet haben. Vorher wird noch einmal kräftig die Werbetrommel gerührt: Senatoren füllen die Stühle auf den sonntäglichen Talk-Shows. Präsident Obama persönlich wird im Presseclub „Meet the Press“ auftreten, um noch einmal auf eine Einigung zu drängen.
Alles konzentriert sich auf eine kleine Lösung in letzter Minute, die die schlimmsten Folgen der Fiskalklippe abwendet. Einen umfassenden Deal im Haushaltsstreit wird es in diesem Jahr wohl nicht mehr geben, obwohl Amerikas Politiker mehr als ein Jahr dafür Zeit hatten. Doch auch eine kleine Lösung ist noch längst nicht sicher. Für so manchen Politiker wäre es sogar attraktiver, das Land „über die Klippe“ springen zu lassen – zumindest für ein paar Tage.
Die USA zittern vor der „Fiskalklippe“
Durch die "Fiskalklippe" könnten der US-Wirtschaft im kommenden Jahr mehr als 500 Milliarden Dollar entzogen werden. Das überparteiliche Haushaltsbüro im Kongress befürchtet, dass das Bruttosozialprodukt um 0,5 Prozent schrumpfen würde. Die Arbeitslosenquote würde bis Ende 2013 von derzeit 7,7 auf 9,1 Prozent steigen. Nach Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds dürfte sich ein Einbruch der US-Konjunktur auf die gesamte Weltwirtschaft auswirken, die ohnehin schon gebannt die Schuldenkrise in der Eurozone verfolgt.
Die Steuererhöhungen betreffen die Einkommenssteuer, die Erbschaftssteuer, Abgaben auf Kapitalerträge sowie eine Reihe von Abschreibungsmöglichkeiten, die wegfallen würden. Die Beiträge zur staatlichen Rentenversicherung sollen dem Szenario entsprechend auch steigen. Obama warnt, dass eine typische Familie der Mittelschicht im Schnitt 2200 Dollar mehr Steuern zahlen müsste. Auch Konjunkturmaßnahmen wie die Verlängerung der Arbeitslosenhilfe würden Ende des Jahres auslaufen.
Das im August 2011 verabschiedete Haushaltskontrollgesetz verpflichtet die US-Regierung, die Ausgaben über zehn Jahre um 1,2 Billionen Dollar (gut 900 Milliarden Euro) zu kürzen. Allein im kommenden Jahr würden pauschal 55 Milliarden Dollar im Verteidigungshaushalt und weitere 55 Milliarden Dollar in anderen Bereichen gestrichen.
Zum Jahreswechsel laufen eine Reihe von Steuererleichterungen aus der Zeit von Obamas Vorgänger George W. Bush aus. Die meisten der Vergünstigungen wollen auch die Demokraten wie zuletzt im Dezember 2010 verlängern - nur bei den Topverdienern verlangen sie, dass die Steuersätze steigen. Weil sich die Republikaner dagegen stemmen, wirft Obama ihnen vor, die breite Bevölkerung als "Geisel" zu nehmen, um den Reichen ihre Steuerprivilegien zu erhalten.
Die ab Januar drohenden Kürzungen gehen auf den Haushaltskompromiss vom Sommer 2011 zurück, als der Streit um die Anhebung der Schuldenobergrenze die USA an den Rand der Zahlungsunfähigkeit gebracht hatte. Die damals vereinbarten drakonischen Einschnitte waren eigentlich als eine Art Drohkulisse gedacht, damit sich Republikaner und Demokraten auf einen ausgewogenen Plan zum Abbau des Haushaltsdefizits verständigen. Doch ohne Lösung bis Jahresende wird die Sparbombe automatisch gezündet.
Die "Fiskalklippe" ist der jüngste Ausdruck des seit Jahren schwelenden Streits zwischen Demokraten und Republikanern im Kongress über die Sanierung der Staatsfinanzen. Während die Demokraten von Präsident Barack Obama die Reichen stärker belasten wollen, lehnen die Republikaner höhere Steuern als Gefahr für Wirtschaft und Jobs ab. Stattdessen wollen sie vor allem bei den Sozialprogrammen stärker kürzen.
Denn schon Anfang Januar könnten die großen Fragen um eine stärkere Besteuerung der Reichen und um einen sinnvollen Schuldenabbau geklärt sein. Dann nämlich tritt der neu gewählte Kongress zusammen. Und sowohl für Obamas Demokraten als auch für die Republikaner gibt es Argumente, abzuwarten und nach dem 3. Januar erst eine Lösung zu finden, statt sich zu einem überstürzten Kompromiss drängen zu lassen.
Auch für Demokraten attraktiv
Für Republikaner hätte ein kleiner Klippensprung einen besonderen Charme: Ohne einen Kompromiss würden die Steuern für alle Amerikaner steigen. Und nach dem 3. Januar könnten Republikaner dann dafür stimmen, die Steuern für einen großen Teil der Bevölkerung wieder zu senken. Das ist für die konservative Partei attraktiver, als jetzt dafür zu stimmen, die Steuern für die wohlhabenden Amerikaner zu erhöhen. Steuererhöhungen sind grundsätzlich ein rotes Tuch für viele Politiker der Partei. Einige haben sich sogar öffentlich dazu verpflichtet, niemals die Steuern zu erhöhen.
Die größten Pleitekandidaten der USA
Kaliforniens Haushaltsloch brachte schon Ex-Gouverneur Arnold Schwarzenegger zur Verzweiflung. Weder die Schließung von Gefängnissen noch die Sperrung von Nationalparks konnten die Finanzkrise des Landes lösen. In diesem Jahr wird im bevölkerungsreichsten US-Staat wohl eine Lücke im Haushalt von 25,4 Milliarden Dollar klaffen. Zur Einordnung: Das ist fast ein Drittel (29,3 Prozent) des Gesamtetats von 2011. Nun wird überall gespart – außer bei der Filmförderung für Hollywood.
Der fünftgrößte US-Staat war jahrelang die Heimat von US-Präsident Barack Obama. Er arbeitete in Chicago und ist noch heute in der „windy city“ äußert beliebt. Die Finanzlage des Landes ist besorgniserregend. Für 2012 erwartet Illinois ein Haushaltsloch von 15 Milliarden Dollar (44,9 Prozent des aktuellen Budgets). Die Bonität des Staates gilt schon jetzt als gering. Investoren leihen Illinois nur für hohe Zinsen ihr Geld. Die Schuldenspirale dreht sich damit immer weiter.
Der Bundesstaat an der Grenze zu Kanada hat nicht nur viele Gewässer ("Land der tausend Seen"), sondern auch viele Schulden. Für das Gesamtjahr 2012 gehen die Behörden von einem Haushaltsloch von knapp vier Milliarden US-Dollar aus. Schon im Juli 2011 war Minnesota zeitweise zahlungsunfähig. Zoos und Nationalparks wurden geschlossen, Bauarbeiten an Straßen wurden eingestellt und 22.000 staatliche Bedienstete in den unbezahlten Urlaub geschickt.
Der kleine Ostküstenstaat zwischen New York und Rhode Island steckt ebenfalls in der schwersten Finanzkrise seiner Geschichte. Im Haushalt 2012 fehlen 3,7 Milliarden Dollar (20,8 Prozent des 2011er-Etats). Selbst die private Elite-Uni Yale in Connecticut bleibt von der Krise nicht verschont. In ihrem Uni-Budget für 2011/12 fehlen 68 Millionen Dollar.
Der Südstaat musste in den vergangenen Jahren viele Tiefschläge verkrafte. Erst wütete Hurrikan „Katrina“ über das Land, dann folgte eine schmerzhafte Rezession und 2010 schließlich noch die Ölkatastrophe. Der Haushalt ist vollkommen überlastet. Es klafft 2012 ein Loch von 1,7 Milliarden US-Dollar (22 Prozent des 2011er-Etats).
Der Wüstenstaat ist durch eine Stadt weltbekannt: Las Vegas. Die Spielermetropole zieht jährlich Touristen aus allen Teilen der Erde an. Der Haushalt des Bundesstaates kann davon aber nicht profitieren. 2012 wird der Haushalt eine Lücke von 1,5 Milliarden Dollar aufweisen. Allerdings: Die Summe entspricht fast der Hälfte des derzeitigen Etats Nevadas.
Der nördliche Nachbar von Kalifornien wird 2012 wohl ein Haushaltsloch von 1,8 Milliarden US-Dollar verkraften müssen. Diese Summe beträgt ein Viertel des Gesamthaushaltes von 2011. Es wird drastisch gespart: Sowohl bei Kranken und Rentnern als auch bei Schülern und Studenten.
Der Sprecher im republikanisch geführten Repräsentantenhaus, John Boehner, wird am 3. Januar wiedergewählt. Danach, so heißt es in Washington, hätte er mehr Freiheiten, einen Deal auszuarbeiten. Jetzt würde er nichts tun, was seine Wiederwahl gefährden könnte. Boehner hatte vor Weihnachten die Verhandlungen platzen lassen und die Verantwortung auf den demokratisch geführten Senat abgewälzt.
Auch für Demokraten wäre dieser Weg attraktiv. Sie werden nach dem 3. Januar mehr Stimmen im Repräsentantenhaus haben. Und auch sie wollen sich jetzt nicht in einen Kompromiss drängen lassen, der Reichen eine Steuererhöhung erspart oder bei den Sozialsystemen zu harte Einsparungen durchsetzt.
Der Zeitdruck bleibt: Denn wenn der Countdown ausgelaufen ist, werden die Märkte Druck auf Washington machen. Die Politiker sind schon darauf eingestellt. „Ich glaube, die Märkte werden uns für unser Scheitern bestrafen“, sagte der demokratische Abgeordnete Peter Welch im US-Fernsehen. „Und sie sind vielleicht der einzige Weg, um uns noch zu einer Einigung zu bewegen.“