„Cumhuriyet“-Prozess in der Türkei „Auf uns kommt großes Unheil zu“

In der Türkei gehen die Verfolgungen von Regierungskritikern unvermindert weiter. 18 Mitarbeitern der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ droht eine langjährige Haft. Teilweise wegen skurriler Vorwürfe.

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Türkei: „Cumhuriyet“-Mitarbeitern droht langjährige Haft Quelle: AP

Istanbul Als Ali Levent Sinirlioglu schlüpfte Günter Wallraff Anfang der 1980er-Jahre für sein Buch „Ganz unten“ in die Rolle eines türkischen Gastarbeiters, verdingte sich unter anderem bei McDonald‘s und Thyssen. Das Thema Türkei hat den Kölner Enthüllungsjournalisten nie mehr losgelassen. Seit Sonntag ist Wallraff wieder einmal in Istanbul. Er trifft dort die Ehefrau und den Anwalt von Deniz Yücel, den „Welt“-Korrespondenten, der seit Februar in Untersuchungshaft sitzt.

An diesem Dienstag will Wallraff zum Justizpalast im Istanbuler Stadtteil Caglayan fahren. Er möchte als Beobachter dabei sein, wenn dort der Prozess gegen 18 Journalisten und Verlagsmanager der Oppositionszeitung „Cumhuriyet“ fortgesetzt wird. Ihnen werden Verbindungen zu Organisationen wie der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtzieher des Putschversuchs vom Juli 2016 hält.

Schon Anfang Oktober war Wallraff zu seinem 75. Geburtstag in die Türkei gereist, hatte die „Cumhuriyet“-Redaktion besucht, Angehörige der Angeklagten getroffen und mit dem Kolumnisten Kadri Gürsel gesprochen. Gürsel war kurz zuvor überraschend nach elf Monaten Untersuchungshaft unter Auflagen wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Vier weitere „Cumhuriyet“-Angeklagte sind weiter in Untersuchungshaft, unter ihnen der Chefredakteur Murat Sabuncu und der Reporter Ahmet Sik, der bekannteste Investigativ-Journalist der Türkei. Sik ist der diesjährige Preisträger des Günter-Wallraff-Preises für Journalismuskritik.

„Auf uns kommt großes Unheil zu“, ahnte Ahmet Sik schon zu Beginn des Prozesses im Juli. Die Staatsanwältin Yasemin Baba wirft den Angeklagten vor, sie hätten gemeinsam mit Gülen einen „asymmetrischen Krieg“ gegen die Regierung geführt, Unruhen provoziert und auf einen Umsturz hingearbeitet. Für die beschuldigten Journalisten fordert Frau Baba bis zu 29 Jahre, für die Verlagsmanager bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Siks Ehefrau Yonka.

Die Anklage gegen Ahmet Sik wirkt besonders bizarr. Er saß schon 2011 im Gefängnis, weil er die Machenschaften Gülens zur Unterwanderung der öffentlichen Verwaltung, der Justiz, der Polizei und der Streitkräfte aufgedeckt hatte. Gülen und Erdogan waren damals noch enge Verbündete. Siks Buch „Die Armee des Imam“ wurde noch vor dem Erscheinen verboten. Jetzt wirft die Regierung ausgerechnet Sik vor, er habe die Gülen-Bewegung unterstützt.


Kritische Journalisten ins Exil geflüchtet

Einer der Beschuldigten sitzt nicht auf der Anklagebank: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-Chefredakteur. Auch er stand 2016 schon einmal vor Gericht. Die Anklage lautete damals auf Spionage. Dündar hatte Dokumente über angebliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an islamische Extremisten in Syrien veröffentlicht. Als das türkische Verfassungsgericht die Untersuchungshaft für Dündar überraschend aufhob, konnte der Journalist Anfang Juli 2016 nach Deutschland ausreisen. Er lebt jetzt in Berlin. In der Türkei ist er zur Fahndung ausgeschrieben.

Anlässlich der Fortsetzung des „Cumhuriyet“-Prozesses demonstrierten am vergangenen Samstag in Istanbul mehrere hundert Menschen mit dem Slogan „Gazetecilere Özgürlük“ (Freiheit für Journalisten) für die 171 Medienschaffenden, die in der Türkei derzeit in Haft sitzen – mehr als in irgendeinem anderen Land der Erde. 187 Zeitungen, Magazine, Nachrichtenagenturen, Radio- und Fernsehsender hat Staatschef Erdogan seit dem Putschversuch per Dekret verboten. 889 Journalisten hat die Regierung im vergangenen Jahr die staatlichen Presseausweise entzogen, was einem Berufsverbot gleichkommt. 139.141 Bücher ließ das Kulturministerium aus den staatlichen Büchereien entfernen – wegen angeblicher Propaganda für die Gülen-Bewegung.

Auch mehr als 15 Monate nach dem Putschversuch setzt Erdogan seine sogenannten Säuberungen unvermindert fort. Allein in den ersten beiden Oktober-Wochen wurden nach Angaben des Innenministeriums 1756 Menschen wegen angeblicher Gülen-Verbindungen festgenommen. Mitte Oktober nickte das Parlament die von der Regierung beschlossene Verlängerung des Ausnahmezustandes um weitere drei Monate ab. Der Druck auf die Regierungskritiker wächst. Vor zehn Tagen wurde der Unternehmer Osman Kavala festgenommen, ein bekannter Förderer zivilgesellschaftlicher Organisationen. Hunderten türkischen Akademikern, die im vergangenen Jahr einen Aufruf zum Frieden im Kurdenkonflikt unterzeichnet hatten, droht jetzt eine Anklage wegen Terrorpropaganda, berichteten WDR, NRD und „Süddeutsche Zeitung“. Angeklagt werden sollen auch etwa 100 Unterzeichner des Appells, die inzwischen in Deutschland im Exil leben.

Bei Erdogans Feldzug gegen seine Kritiker hat der „Cumhuriyet“-Prozess besondere Bedeutung. 1924 gegründet, ist sie die älteste Tageszeitung der Türkei. Ihr Name (Republik) ist Programm. Sie geht auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien, wie die Trennung von Staat und Religion und die Westorientierung der Türkei. Im September 2016 wurde das Blatt als „Stimme der Demokratie“ mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. Erdogan-Kritiker fürchten, dass mit dem Prozess gegen die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter diese Stimme zum Schweigen gebracht werden soll.

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