Cumhuriyet-Prozess in der Türkei Maulkorb für die „Stimme der Demokratie“

Am Montag beginnt das Verfahren gegen Journalisten und Verlagsmanager der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“. Es ist einer von vielen Schauprozessen, mit denen Erdogan versucht, Kritiker zum Schweigen zu bringen.

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17 Mitarbeitern, Verlagsmanagern und Anwälten der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“ in der Türkei wird ab diesem Montag der Prozess gemacht. Ihnen werden Verbindungen zu „Terrororganisationen“ wie der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen. Quelle: AP

Istanbul Ahmet Sik steht nicht zum ersten Mal vor Gericht. Als bekannter investigativer Journalist ist er schon früher ins Visier der türkischen Regierung und der Justiz geraten. Aber diesmal ist es ernst. Sik hat eine schlimme Ahnung: „Auf uns kommt ein schreckliches Unheil zu.“

Seit dem 29. Dezember vergangenen Jahres sitzt der 47-Jährige in Untersuchungshaft. An diesem Montag steht er in Istanbul vor Gericht. Sik ist einer von 17 Mitarbeitern, Verlagsmanagern und Anwälten der oppositionellen Zeitung „Cumhuriyet“, denen jetzt der Prozess gemacht wird. Ihnen werden Verbindungen zu „Terrororganisationen“ wie der Bewegung des Exil-Predigers Fethullah Gülen vorgeworfen, den Staatschef Recep Tayyip Erdogan für den Drahtzieher des Putschversuchs vom 15. Juli 2016 hält.

Die Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft Istanbul umfasst 247 Seiten. Sie wirft den Beschuldigten vor, sie hätten die Pressefreiheit zu Propaganda für den Erdogan-Erzfeind Gülen missbraucht, Unruhen provoziert und auf einen Umsturz hingearbeitet Für die angeklagten Journalisten fordert Staatsanwältin Yasemin Baba bis zu 29 Jahre, für die Verlagsmanager bis zu 43 Jahre Haft. Die Angeklagten bestreiten die Vorwürfe. Sie fühlen sich als „politische Geiseln“, sagt Ahmet Siks Ehefrau Yonka.

Die Anklage gegen Sik wirkt besonders bizarr. Der Journalist saß auf Betreiben Gülen-naher Staatsanwälte und Richter schon 2011 im Gefängnis, weil er die Machenschaften des Exil-Predigers zur Unterwanderung des Staatsapparates aufgedeckt hatte – Gülen war damals noch ein Erdogan-Verbündeter. Jetzt wird Sik vorgeworfen, er habe der Gülen-Bewegung geholfen. „Damals haben die Gülenisten ‚Beweise‘ fabriziert, heute gibt man sich nicht einmal mehr diese Mühe“, sagt Sik und fragt: „Wie wollen diese Richter ihren Kindern in die Augen sehen?“ Auch der angeklagte Kolumnist Kadri Gürsel, Vorstandsmitglied des International Press Instituts (IPI), sagt, die Vorwürfe widersprächen „jeder Vernunft und Logik“.

Einer der Beschuldigten wird nicht auf der Anklagebank sitzen: Can Dündar, der frühere „Cumhuriyet“-Chefredakteur. Er konnte im Juli 2016 nach Deutschland fliehen und lebt jetzt in Berlin. In der Türkei ist er zur Fahndung ausgeschrieben. Seine Mitangeklagten säßen seit 250 Tagen im Gefängnis, ohne dass sie jemals einen Richter zu Gesicht bekommen hätten, sagte Dündar der Deutschen Presse-Agentur. „Das ist wie Folter. Diese Leute werden schon bestraft, bevor sie vor Gericht kommen, das ist leider die Politik der türkischen Regierung.“ Es gebe in der Türkei keine Rechtsstaatlichkeit, „Erdogan steuert die Richter und Staatsanwälte“, sagt Dündar.


Prozess wird international verfolgt

Vor dem Hintergrund der jüngsten Eskalation in den deutsch-türkischen Beziehungen und der Verhaftung des Menschenrechtlers Peter Steudtner wird der „Cumhuriyet“-Prozess international besonders aufmerksam verfolgt. Die Zeitung stehe „symbolisch für den mutigen Einsatz der wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien in der Türkei“, sagt Christian Mihr, Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen. „Eine Verurteilung wäre ein verheerendes Signal und eine Schande für die türkische Justiz“, meint Mihr.

Dass es überhaupt zu den Festnahmen der Redakteure und Verlagsmanager sowie zur Anklage kam, wirft ein grelles Schlaglicht auf den desolaten Zustand der Meinungsfreiheit und die schwierige Situation der politischen Gefangenen in der Türkei. Seit dem Putschversuch vor einem Jahr ließ Erdogan per Dekret 149 Medien schließen und 274 Journalisten festnehmen. Davon sitzen aktuell nach Angaben der Organisation P24, einer „Plattform für unabhängigen Journalismus“, 165 in Haft – mehr als in jedem anderen Land der Erde. Unter ihnen sind der „Welt“-Korrespondent Deniz Yücel und die deutsch-türkische Übersetzerin Mesale Tolu Corlu. Seit vergangenem Dienstag sitzt auch der deutsche Menschenrechtler und Dokumentarfilmer Peter Steudtner wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.

Das „Cumhuriyet“-Verfahren ist nur einer von mehreren Schauprozessen, mit denen Regierungskritiker in der Türkei eingeschüchtert und zum Schweigen gebracht werden sollen. Am 20. Juni begann in Istanbul ein Strafverfahren gegen 17 Journalisten und Intellektuelle. Auch ihnen werden Verbindungen zur Gülen-Bewegung vorgeworfen. Zu den Angeklagten gehören der international bekannte Journalist Ahmet Altan und sein Bruder, der Wirtschaftsprofessor und Buchautor Mehmet Altan. Der Vorwurf: Die Altan-Brüder sollen in einer TV-Talkshow am Abend vor dem versuchten Coup „unterschwellige Botschaften“ an die Putschisten gesendet haben. Sie sitzen seit zehn Monaten in Untersuchungshaft. Auf der Anklagebank sitzt auch die Moderatorin der Sendung, die 72-jährige Journalistin Nazli Ilicak. Sie arbeitete bis 2013 für die regierungsnahe Zeitung Sabah. Wegen regierungskritischer Artikel im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre Ende 2013 trennte sich die Zeitung von Ilicak.

Zum Prozessbeginn sagte Ilicak vor Gericht: „Ich bin über 70 Jahre alt und habe mein Leben lang keine Verbindungen zu religiösen, noch weniger zu einer terroristischen Gruppe unterhalten.“ An die Richter gewandt fragte Ilicak: „Warum sollte ich wollen, dass Fethullah Gülen die Macht in der Türkei übernimmt? Ich verdanke meine Identität der säkularen Republik.“ Die Journalistin bekannte: „Ich bin eine Gegnerin von Tayyip Erdogan – ist das ein Verbrechen?“ Der Prozess soll am 19. September fortgesetzt werden. Die Angeklagten bleiben in Untersuchungshaft. Bei einem Schuldspruch droht ihnen Lebenslang.

In der Anklageschrift gegen die „Cumhuriyet“-Mitarbeiter wird die Zeitung als eine Art Zentralorgan der Gülen-Bewegung hingestellt – ein absurder Vorwurf, denn das Blatt war seit jeher ein Sprachrohr der Kemalisten. Die im weitesten Sinn sozialdemokratisch ausgerichtete „Cumhuriyet“ ist die älteste Tageszeitung der modernen Türkei. Das 1924 gegründete Blatt geht auf den Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk zurück und verteidigt dessen Prinzipien. Dazu gehört vor allem die Trennung von Staat und Religion. Im September 2016 wurde das Blatt mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. „Cumhuriyet“ beweise, „dass die Stimme der Demokratie nicht zum Schweigen gebracht werden kann“, hieß es zur Begründung – eine Einschätzung, die inzwischen sehr optimistisch erscheint.

Wie auch die Hoffnung, die Ex-Chefredakteur Sabuncu im April gegenüber Besuchern in der Untersuchungshaft äußerte: „Früher oder später wird der freie Journalismus gewinnen.“ In der Türkei wohl eher später als früher. In den 15 Erdogan-Jahren ist das Land in der Rangliste der Pressefreiheit um 57 Plätze auf Rang 155 von 180 Staaten abgestürzt.

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