Der Christian Drosten von Japan „Das Versagen der Regierung besteht darin, dass sie sich auf die Mitarbeit der Bevölkerung verlassen hat“

Kenji Shibuya Quelle: Presse

Mit seiner hohen Impfquote und seinen niedrigen Fallzahlen sticht Japan in der Coronabekämpfung heraus. Welche Lehren Deutschland daraus ziehen kann, erläutert der Epidemiologie-Professor Kenji Shibuya. In Japan hat er eine ähnliche Bedeutung und Funktion wie Christian Drosten in Deutschland.

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Kenji Shibuya ist Professor für Global Health Policy an der Universität Tokyo und Präsident des japanischen Instituts für globale Gesundheit.

WirtschaftsWoche: Mit über 75 Prozent hat Japan jetzt die höchste Quote für vollständige Impfungen unter den G7-Nationen. Dabei galt das Land wegen mehrerer Skandale in den neunziger Jahren als impfskeptisch. Wundern Sie sich auch darüber?
Kenji Shibuya: Ich denke, der langsame Start der Impfkampagne und der zunächst knappe Impfstoff haben dazu geführt, dass vor allem ältere Leute sich schnell impfen lassen wollten. Andere Familienmitglieder fühlten sich danach sicher und sind auch zum Impfen gegangen.

Die Zahl der Infektionen ist am Montag auf landesweit 79 gesunken, den tiefsten Stand seit fast anderthalb Jahren. Wie lässt sich dieser Trend erklären?
Es wird gesagt, dass der Rückgang (von knapp 26.000 Fällen Mitte August) plötzlich kam. Diese Leute argumentieren, dass die Menschen ihre Bewegungen eingeschränkt hätten, sie halten die Mobilität für die treibende Kraft einer Infektionswelle. Ich bin anderer Meinung. Die Welle zwischen Anfang Juli und Anfang September dauerte den üblichen Zweimonate-Zyklus und entsprach dem saisonalen Muster. Dazu wirkte sich die schnelle Zunahme der Impfungen, vor allem bei jungen Leuten, aus. Das heißt aber auch: Ich erwarte im Winter eine neue Welle in Japan.

Was meinen Sie mit „saisonalem Muster“?
Es gibt zyklische Wechsel für Coronaviren, eine klare Sommer- und Winterwelle. Das Wetter spielt eine Rolle, die Feuchtigkeit, die Temperatur, aber auch menschliche Aktivitäten, zum Beispiel, ob die Schulen offen sind oder nicht.

Einige Wissenschaftler in Japan führen das schnelle Ende der letzten starken Welle auch darauf zurück, dass die Deltavariante sich durch weitere Mutationen abgeschwächt habe. Was halten Sie von dieser Theorie?
Nun, das ist eine Aufgabe für die Biologen. Es gibt einen Haufen Theorien zu Mutationsfehlern. Einige dieser Varianten würden nur eine bestimmte Gruppe von Leuten anstecken und danach verschwinden. Diese Hypothesen müssen wir untersuchen. Meine Theorie bleibt, dass vor allem die Saisonalität und die Impfeffektivität eine Rolle spielten.

Sie erwarten eine neue Welle in diesem Winter in Japan. Wie kann das sein, wenn über 75 Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft sind?
Wir haben bei der Impfkampagne in der Stadt Soma in Fukushima die Antikörpertiter für Covid-19 ermittelt. Dabei zeigte sich ein rapider Rückgang der Antikörper, vor allem in der Gruppe der älteren Geimpften. Drei Monate nach der zweiten Spritze können sie sich schon wieder selbst anstecken und das Virus auch an andere weitergeben. Den vollen Impfschutz in Bezug auf die Vermeidung einer Hospitalisierung behält man für etwa sechs Monate.

Deswegen müssen die Impfungen recht bald aufgefrischt werden?
Das Gesundheitsministerium beurteilte eine Booster-Impfung zunächst sehr skeptisch, weil noch nicht einmal alle Japaner zwei Dosen erhalten haben. Aber der Bürgermeister der Stadt Soma hat die Daten direkt Premierminister Fumio Kishida vorgelegt. Danach hat er im Parlament gesagt, dass es ab Dezember Booster-Shots geben wird. Ich meine, wir sollten damit so schnell wie möglich beginnen, weil das Antikörperniveau zurückgeht.

Wie beurteilen Sie rückblickend den Umgang der Regierung mit der Pandemie?
Klassisch bekämpft man eine Pandemie auf drei Arten. Erstens die Übertragungswege durch Maskentragen, Händewaschen und Abstandhalten unterbrechen, im Extremfall durch einen Lockdown. Zweitens die Personen identifizieren, die sich angesteckt haben, und sie isolieren. Das erfordert massives Testen. Drittens die Immunität durch Impfungen erhöhen. Alle drei Aspekte sollten ausgewogen verfolgt werden. Aber Japans Gesundheitsministerium hat sich darauf konzentriert, die Übertragungswege durch die Identifizierung und Isolierung von Infizierten und ihrer Kontakte zu unterbrechen. Die Zahl der Tests wurde nicht erhöht und der Start der Impfkampagne verzögert.

Aber warum kam Japan dann im internationalen Vergleich mit relativ wenigen Infizierten und Todesopfern davon?
Die Selbstdisziplin der Japaner beim Maskentragen und anderen Vorsichtsmaßnahmen war sicher der Hauptgrund. Das Versagen der Regierung besteht darin, dass sie sich allein auf die Mitarbeit der Bevölkerung verlassen hat.

Wegen der niedrigen Testzahl in Japan wird oft vermutet, dass die Zahl der Infektionen viel höher ist. Eine Studie eines Tokioter Instituts kam aufgrund von Antikörper-Messungen zu dem Schluss, dass bereits im März bis zu eine halbe Million Bewohner der Hauptstadt infiziert waren. Wie sieht Ihre Einschätzung aus?
Ich denke auch, dass die Infektionszahl stark unterschätzt wird, da asymptomatische Übertragungen, also durch Infizierte, die selbst keine Krankheitssymptome zeigen, oft nicht erfasst werden. Eine halbe Million Infizierte in Tokio entspricht etwa drei Prozent der Einwohner, das ergibt Sinn. Allerdings dürfte es einige Epizentren statt einer gleichmäßigen Verteilung im Stadtgebiet geben.



Einige Beobachter sagen sogar, dass die Regierung das Ausmaß verheimliche, besonders als die Austragung der Olympischen Spiele noch nicht sicher war. Es war und ist immer noch sehr schwierig, einen Coronatest zu bekommen, in Deutschland ist er kostenlos.
Ich glaube nicht, dass die Regierung etwas versteckt. Aber sie hat sich darauf beschränkt, Cluster zu verfolgen. Diese Strategie funktioniert nicht, da sie asymptomatische Übertragungen ignoriert. Kishida hat vor ein paar Tagen mehr und dazu kostenfreie Tests versprochen, aber es ist nicht klar, wie viele und welche Art von Tests gemacht werden. Ich bin nicht überzeugt davon, dass dies schnell passieren wird. Dabei ist es extrem wichtig, das Testen massiv auszuweiten, sonst bleibt die gesellschaftliche Öffnung riskant.

Deutschland, Österreich und die Schweiz haben die niedrigsten Impfquoten in Europa und suchen nun nach Gegenstrategien. Was würden Sie den Regierungen empfehlen?
Ich weiß nicht, warum die deutschsprachigen Länder gegenüber südlichen Ländern wie Spanien und Portugal so zurückliegen. Aber ein Lockdown für Ungeimpfte wie in Österreich ist ein logischer Schritt, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, weil wir das Gleiche ja für die ganze Bevölkerung gemacht haben, bevor es Impfstoffe gab.

Und wie beurteilen Sie 2G- oder 3G-Zutrittsbeschränkungen zum Beispiel für Restaurant- und Konzertbesuche?
Das halte ich für sinnvoll. Diese Strategie gibt den jungen Leuten auch einen sozialen Anreiz, sich impfen zu lassen, danach können sie wieder voll am Leben teilnehmen. Auch wenn Japan ab 2022 wieder Inlandsreisen subventionieren wird, sollte dies einen Impfpass voraussetzen. Eine Impfung kann allerdings eine Übertragung nicht verhindern. Idealerweise sollte man den Impfpass mit einem negativen Testergebnis kombinieren.

Wenn der Impfschutz mit der Zeit nachlässt, was bedeutet das für den Impfpass?
In Anbetracht der Tatsache, dass die Antikörper drei Monate nach der zweiten Impfung schnell abnehmen, wäre es meines Erachtens besser, die Gültigkeit des Impfzertifikates auf maximal sechs bis acht Monate zu beschränken.

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung? Muss sich die gesamte Bevölkerung nun alle sechs Monate frisch impfen lassen?
Das wäre eine Möglichkeit. Aber wenn wir die Immunität durch natürliche Infektionen und Impfungen erhöhen und bald ein oral einzunehmendes Antivirus-Medikament haben, dann braucht man bei einer Covid-Erkrankung nicht mehr ins Krankenhaus und wird daran nicht sterben. Aber so weit sind wir noch nicht, daher müssen wir sehr vorsichtig sein.

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Und wie wird die Pandemie enden? Sobald die Antikörper-Medikamente existieren?
Das trifft vielleicht auf Deutschland, Großbritannien, Japan oder die USA zu. Aber außerhalb dieser Länder mit Impfstoffen und Medikamenten sind nur zwei Prozent der Bevölkerung doppelt geimpft. Daher denke ich, dass Corona in den nächsten Jahren kommen und gehen wird. Aber wir haben ja Waffen wie Impfstoffe, Medikamente und Tests, so dass Covid so kontrollierbar werden wird wie das Grippevirus Influenza-A.

Mehr zum Thema: Japan kommt bemerkenswert gut durch die Coronakrise – die Deutschen sollten davon lernen.

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