
Hal Varian hätte seine Karriere als Wissenschaftler relativ stressfrei an einer renommierten Universität ausklingen lassen können. Der Mann hat zwei bekannte volkswirtschaftliche Lehrbücher verfasst und immerhin in Stanford, Berkeley, Oxford und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) gelehrt. Zu seinen Studenten zählten Ökonomie-Nobelpreisträger Paul Krugman, der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers und Ben Bernanke, der langjährige Chef der Notenbank Fed.
Doch Varian hat es in die Privatwirtschaft gezogen. Mehr noch: Der Experte für Mikro- und Informationsökonomie ist wohl der einzige Wirtschaftsprofessor, der einen Konzern von Weltrang mit aufgebaut hat und immer noch prägt. Als Chefökonom von Google ist der 68-Jährige seit 2007 für die Unternehmensgründer Larry Page und Sergey Brin sowie für Verwaltungsratschef Eric Schmidt der wichtigste Ratgeber in wirtschaftlichen und politischen Fragen.





Die Zusammenarbeit zwischen Varian und Google begann 2002. Das Unternehmen heuerte den Experten für Auktionsmodelle zunächst als Berater an. Das aufstrebende Start-up Google war damals mit rund 300 Mitarbeitern noch relativ klein. Aber es hatte neben seiner bereits bekannten Suchmaschine eine vielversprechende Geschäftsidee namens Adwords, die den Berkeley-Professor faszinierte – und die er fortan weiterentwickelte.
Das Programm vermarktet die Begriffe, die Google-Nutzer in die Suchmaschine eingeben, die damit ihre Interessen und Kaufabsichten offenbaren. Adwords verkauft den Anzeigenplatz neben den Suchresultaten an Werbetreibende. Allerdings nicht klassisch zu Festpreisen, sondern per Versteigerung. Potenziell besonders umsatzträchtige Begriffe wie „Lebensversicherung“ erzielten in Spitzenzeiten schon mal bis zu 80 Dollar pro Klick auf die jeweilige Anzeige am Seitenrand. Neben Adsense, das Werbung auf anderen Web-Seiten platziert, ist Adwords der ökonomische Grundpfeiler des Milliardenimperiums von Google geworden. Varian gilt als einer seiner Architekten.





Heute ist Varian neben Vint Cerf, dem Vater des Internets, eine der beiden wissenschaftlichen Koryphäen von Google. Mit seinem bescheidenen Auftreten und trockenem Humor lässt er den oft in der Schusslinie stehenden Konzern sympathisch daherkommen. Seine Erkennungsmerkmale sind die randlose Brille und der markante Seitenscheitel; mit Vorliebe tauscht er Hemd und Krawatte gegen Polo-Shirts ein.
Seine wichtigste Aufgabe bei Google ist das „nowcasting”, wie er es nennt, das Verstehen der Gegenwart, aus dem sich Zukunftsprognosen ableiten lassen. Wie das von ihm beratene Manager-Triumvirat ist Varian überzeugt, dass es für alle Phänomene von Wirtschaft und Gesellschaft kausale Zusammenhänge gibt, die man mit genügend Informationen aufdecken kann. Mit einem Team von rund 1000 Statistikern erarbeitet der Ökonom Markt- und Werbeanalysen für den Vorstand und schaut sich zum Beispiel an, wie effektiv Werbung ist, wo sie Aufmerksamkeit und Umsatz bringt und auf welche Suchwörter Marketingspezialisten setzen sollten. Varian erstellt aber auch Konzepte und Strategiepapiere zu politischen Fragen, Datenschutz und Wettbewerbsthemen. „Mein Job ist es, mir die Fragen zu stellen, die mir das Management nächsten Monat stellt“, sagte er in einem Interview mit der „FAZ“.
Varian ist ein Taktiker. Als Professor in Berkeley empfahl er seinen Studenten, unbequeme Fragen am besten zu ignorieren – vor allem, wenn der Zeitpunkt für ihre Beantwortung ungünstig ist. Und er kennt auch den Wert von Fehlinformationen – zum Beispiel als das US-Beratungsunternehmen Comscore jahrelang Googles Marktanteil im US-Suchmaschinengeschäft unterschätzte. „Aus Anti-Trust-Gründen bin ich ganz glücklich darüber“, wird Varian in einem vertraulichen Papier der Wettbewerbsbehörde FTC zitiert. Die von ihm beratene Google-Führungsriege korrigierte die Zahlen jedenfalls nicht. Manche sagen: Dass Google in den USA trotz langjähriger Untersuchungen der FTC bislang eine Monopolklage erspart blieb, verdankt der Gigant nicht zuletzt seinem Chefökonomen.
Varian ist auch für den Erwerb von Patenten für Milliardensummen verantwortlich, etwa von Handypionier Motorola. Er will diese als Druckmittel einsetzen, damit die Branche ihre Patente künftig untereinander lizenziert, anstatt sich gegenseitig zu verklagen.
Eines hat Varian allerdings nicht verhindert: Dass Google-Chef Larry Page die Bedeutung von sozialen Netzwerken lange unterschätzte – und direkt vor seiner Haustür den Konkurrenten Facebook gedeihen ließ.