Vorsprung durch Anstand Diese Lehre lässt sich aus dem Drama in Washington ziehen

Donald Trump vor den Ausschreitung: Seine politische Kultur der permanenten Eskalation führt an den Abgrund. Quelle: AP

Trumps politische Kultur der permanenten Eskalation führt an den Abgrund. Die Bundesrepublik kann daraus die Gewissheit schöpfen, dass es anders geht. Besser.

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Ist es ein Fortschritt, wenn der Kannibale Messer und Gabel benutzt? Als das zweite TV-Duell zwischen Donald Trump und Joe Biden beendet war, musste einem fast zwangsläufig dieser Aphorismus des polnischen Schriftstellers Stanislaw Lec in den Sinn kommen. Für den kurzen Moment des Fernsehduells schien so etwas auf wie halbwegs zivilisierte Debatte, wurde ein Austausch von Argumenten möglich, war ein Donald Trump zu besichtigen, der sich wenigstens an die eine oder andere Regel zu halten gedachte.

Aus. Vorbei. Das Besteck ist hinweggefegt. Der Präsident ist kein Wahlsieger von 2016 mehr, der noch auf eine zweite Amtszeit hoffen darf, sondern ein eindeutiger, nach allen geltenden Maßstäben geschlagener Wahlverlierer. Donald Trump ist trotzdem ganz der Alte, will heißen: die üblichen Maßstäbe sollen für alle gelten, nur nicht für ihn. Ein Loser, er? Niemals. „I concede NOTHING!“

Man würde dies alles gern unter der Rubrik tragische Clowneske abheften, als letztes pseudodespotisches, politisches Todeszucken diagnostizieren. Nur dass es sich nicht um eine Netflixserie handelt, kein Alec Baldwin den Spuk als bitterbösen Gag von „Saturday Night Live“ entlarvt. Es ist die Realität: Die Vereinigten Staaten haben einen Noch-Präsidenten im Weißen Haus, der sich in würdeloser Weise an die Macht und an Twitter klammert und mit dem Staatsstreich von innen flirtet. Einen Mann, der am liebsten die Verfassung gefeuert hatte, als wäre sie die Azubi-Staffage bei „The Apprentice“. Jemand, dem offenbar jedes grundlegende Gespür für den Wert des feinen Gewebes fehlt, das aus politisch-gesellschaftlichen Konventionen geflochten wird.

Und selbst wenn – wenn! – es ihm in den vergangenen Wochen nur (noch) darum gegangen sein sollte, eine kommunikative Rampe für die weitere Vorherrschaft in der so genannten Republikanischen Partei zu bauen, Vorfeldarbeit für eine weitere Kampagne 2024 zu leisten: wäre das Failed-State-Gehabe weniger furchtbar?

Wer Trumps (wirtschafts-)politischem Programm jemals Sympathie entgegengebracht und womöglich sein Kreuzchen bei ihm gemacht haben sollte, der müsste allerspätestens jetzt realisieren, welchen Geist er da aus der Flasche ließ. Hier geht es nicht mehr um Steuersenkungen und Zölle, protektionistische Breitbeinigkeit oder das Verbrennen von lästigem „red tape“. Die Zeit der Denkzettel fürs Establishment haben wir hinter uns gelassen.

Es geht jetzt ums Ganze, die demokratische Verfasstheit als solche, die in den Vereinigten Staaten mehr als zwei Jahrhunderte alt ist. Um die Errungenschaft, Machtwechsel in zivilisierten Gemeinschaften ohne Gewalt und Aggression walten zu lassen. Selbst der mächtigste Mann der Welt muss sich dann am Ende noch einer Macht beugen: Dem Willen der Wähler.

Der Verfassungsrechtler Ernst-Wolfgang Böckenförde hat die Fragilität demokratischer Staatswesen einmal in den berühmten, weil auch verstörenden Satz gefasst, dass der „freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann“. Wir haben ihn verdrängt. Wir haben verlernt, uns unsere Gesellschaft als eine permanent gefährdete vorzustellen, mit einer Firnis, die leichter brüchig werden kann, als wir ahnen; vielleicht ahnen wollen.

Die Regeln sind nur so lange Regeln, wie eine Mehrheit sie als Regeln anerkennt – und sich an sie halten will. Und Anstand und Gemeinsinn, Charakter und Haltung kann eben keine Verfassung aus sich heraus erzeugen, geschweige denn erzwingen. So gesehen muss man Donald Trump fast dankbar sein, dass er uns daran erinnert, in welche Art von demokratischer Risikogesellschaft wir alle mit nur einer Wahl geworfen werden können.

Etwas Weiteres kommt hinzu: Wenn Joe Biden nun, nach den Senatswahlsiegen in Georgia, auch nur einen Teil des programmatischen Wandels vollziehen kann, den er sich vorstellt, werden die Vereinigten Staaten binnen anderthalb Jahrzehnten ein fast unglaubliches Hin und Her des politischen Kurses erlebt haben. Ohne ein gewisses Maß an Stabilität und Verlässlichkeit kann aber keine Gesellschaft. Das Pendeln zwischen Extremen schafft keine Mitte. Nicht zuletzt die Wirtschaft findet keinen Tritt und keinen Pfad, wenn Politik immer zuallererst das Ausradieren der Politik der anderen bedeutet.

Um das zu ändern, bräuchte es Mäßigung auf allen Seiten. Ob Amerika dazu künftig noch fähig ist?

Was uns das lehrt: Unser deutscher Grundkonsens ist mehr wert, als wir uns häufig bewusst machen. Zwischen der inoffiziellen Sozialverfassung namens sozialer Marktwirtschaft und dem Verfassungspatriotismus des Grundgesetzes spannt sich ein großer Raum auf, in dem vieles gedeiht. (Gemein-)Sinn zum Beispiel.

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Ja, die deutsche Politik mag im Vergleich zu den USA oder auch zu Großbritannien manchmal träge, bieder und behäbig wirken. Lindenstraße statt Hollywood – da ist etwas Wahres dran. Dass darin auch eine Menge Gutes liegt, machen wir uns (zu) selten bewusst. Wir sollten die Stabilität schätzen und entsprechend schützen.

Vielleicht können wir uns mit den Gedanken trösten und wappnen, dass man am Ende einer bundesdeutschen Wahlnacht nie mit einem Donald Trump aufwachen will. Mit keinem, sagen wir, Björn Höcke. Sondern dass das Schlimmste (man denke sich die Anführungszeichen...), was einem in Deutschland am Morgen danach begegnen kann, auf den Namen Söder, Laschet, Merz, Röttgen, Scholz oder Baerbock hört.

Dieser Beitrag ist erstmalig im November 2020 erschienen. Nach den Ereignissen in Washington haben wir ihn in aktualisierter Form neu veröffentlicht.

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