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Drohendes Chaos Westen blickt naiv auf Afghanistan-Wahl

Demokratische Wahlen in Kabul sollen suggerieren, dass das Afghanistan-Engagement des Westens irgendwie richtig war. Das ist blanker Selbstbetrug! Mangels ökonomischer Perspektiven wird das Land nach dem Abzug zum Jahresende ins Chaos schlittern.

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Frau mit Burka Quelle: dpa

Wer sich im Westen noch für Afghanistan interessiert, hält an diesem Samstag die Luft an: Zwölf Millionen Afghanen wählen – und erstmals in der Geschichte des Landes könnte ein demokratischer Regierungswechsel gelingen. Nach fast 13-jähriger Präsidentschaft tritt der zunehmend eigenwillige Landesvater Hamid Karsai ab. Als aussichtsreichste Kandidaten könnten ihm Ex-Finanzminister Ashraf Ghani, der frühere Außenminister Zalmai Rassoul oder dessen tadschikisch-stämmiger Vorgänger Abdullah Abdullah nachfolgen. Deren Vorsprung auf die übrigen acht Kandidaten ist laut Umfragen so eindeutig, dass nach dem ersten Wahlgang einer ausscheiden wird – und die anderen beiden in die Stichwahl gehen.

Für den Westen indes ist nicht der Ausgang der Wahlen entscheidend, sondern der Ablauf: Wenn es die Afghanen schaffen, einen halbwegs freien und friedlichen Wahlprozess zu gewährleisten, dann kann sich die westliche Zivilisation das Armenhaus am Hindukusch ohne allzu große Gewissensbisse in die Selbstständigkeit entlassen. Was eher unwahrscheinlich scheint. Einige Kandidaten haben bereits vor der Abstimmung angekündigt, die Wahlen im Falle einer Niederlage nicht anzuerkennen – und ihre Anhänger auf die Straßen zu treiben. Beobachter stellen sich auf massive Wahlfälschungen ein, was Protesten Auftrieb geben dürfte. Zusätzlicher Risikofaktor bleiben die radikalislamischen Taliban, die die Afghanen per Pressemitteilung zum Wahl-Boykott aufgerufen und mit Anschlägen auf die knapp 7000 Wahlbüros gedroht haben.

Je sauberer die Wahlen ablaufen, desto demokratischer funktioniert Afghanistan. Das ist die einfache wie naive Formel, nach der der Westen den Urnengang bewerten wird. Ein möglichst demokratischer Ablauf stützt das Trugbild, wonach die „Befriedung“ dieses wilden Landes ein dreiviertel Jahr vor dem Truppenabzug doch erfolgreich war und Afghanistan nach westlicher Erziehungsarbeit ein bisschen demokratischer und zivilisatorischer geworden. Das ist blanker Selbstbetrug!

Eher wahrscheinlich ist, dass der Westen einen polnischen Abgang wagt. Soldaten sind kaum mehr in Kampfeinsätze verwickelt, zum Jahresende werden sie in ihren beheizten Kasernen sitzen oder auf gut beschilderten Truppenübungsplätzen imaginäre Feinde namens „Rotland“ bekämpfen. Entwicklungshelfer wie jene der deutschen GIZ verwalten sich selbst, bringen in Ruhe ihre Projekte zu Ende – und legen keine neuen auf. Schleichend ziehen sich die Westler aus Afghanistan zurück und überlassen jenes Land, das sich so robust der Übernahme westlicher Werte verweigert hat, ihrem Schicksal.

Übrig bleibt wenig: Der Haushalt der Regierung in Kabul hängt heute zu mehr als 60 Prozent am Tropf ausländischer Entwicklungshilfe. Die Landwirtschaft im Norden und Westen des Landes ist fast ausschließlich im Opiumanbau tätig – von der Subsistenzwirtschaft mal abgesehen. Der Drogenschmuggel ist eine der wichtigsten (informellen) Einkommensquellen des Landes. „Wenn wir aber die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans aufgeben“, warnt Tinko Weibezahl von der CDU-nahen Konrad Adenauer-Stiftung, „dann müssen wir uns nicht wundern, dass die Demokratisierung scheitert und das Land eines Tages im völligen Chaos versinkt.“

In die Städte spülen die Ausländer alles Geld: Als Fahrer, Dolmetscher, Reinigungskraft oder Wachmann der weißen Nasen verdienen die Afghanen ihr Geld – und deren opulente Budgets geben sie auf den Märkten aus, wo chinesische Taschenlampen und Klimaanlagen erhältlich sind. Für eine halbwegs stabile Internet-Leitung zahlt ein Unternehmen in Kabul rund 1500 Dollar pro Monat, ein Sicherheitskonvoi zum Flughafen kostet noch viel mehr.

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