„Dschungel“ von Calais Noch geht das Katz-und-Maus-Spiel weiter

Der „Dschungel“ von Calais ist geräumt – das ist es, was die Präfektin Fabienne Buccio stolz verkündet. Doch die Realität vor Ort sieht anders aus. Unser Frankreich-Korrespondent hat sich das Elendslager angesehen.

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Ein Flüchtling schützt sich vor aufsteigendem Rauch. Im wilden Flüchtlingscamp nahe Calais sind während der Räumung mehrere Gastanks explodiert. Quelle: dpa

Calais Am Mittwochabend gilt das Elendslager von Calais, die größte „wilde“ Unterkunft von Flüchtlingen in Europa, offiziell als geräumt. Zwischen 6500 und 8000 Menschen haben hier zuletzt gehaust, unter härtesten Bedingungen. Doch noch immer ziehen Gruppen von Menschen durch den Teil des „Dschungels“, der nicht abgebrannt ist. Viele sind nicht ansprechbar, geben vor, weder Englisch noch Französisch zu verstehen. Andere machen kein Hehl daraus, dass sie bleiben wollen.

Vor der äthiopischen Kirche im früheren Südteil des Camps sitzt ein gutes Dutzend Männer und blinzelt in die untergehende Sonne. Einer von ihnen spricht gut Englisch. „Im Augenblick bleiben wir hier, auf Dauer geht das natürlich nicht, wir müssen dem Befehl der französischen Behörden folgen“, sagt er. Doch in einen der Busse steigen und sich in eine der Erstaufnahme-Einrichtungen fahren lassen, das wollten sie nicht. Er weiß, dass die Präfektin Fabienne Buccio am Mittag angekündigt hat, die Aktion zur sicheren Unterbringung der Gestrandeten werde in der Nacht beendet. „Ja, aber im Moment fahren wir nicht“, wiederholt er mit stoischer Ruhe.

Die Äthiopier sind ein Teil der Lagerbevölkerung, die es laut der Darstellung der Präfektin gar nicht gibt: Menschen, die in Calais und Umgebung bleiben und auch weiter versuchen wollen, auf eigene Faust, illegal nach England zu kommen.

Offiziell ist das Lager jetzt leer, Fabienne Buccio erwähnt nur noch die rund 1500 Minderjährigen, die in einem Containerdorf untergebracht sind. Vor dessen Eingang steht am Abend Pascal Brice, Leiter des französischen Flüchtlingsamts OFPRA. Ein Sudanese kommt auf ihn zu und begrüßt ihn freundlich. „Fahrt Ihr noch nicht?“ fragt Brice erstaunt. „Nein, erst morgen früh“, gibt der Sudanese zurück. „Morgen gehen aber keine Busse mehr, das wurde vorhin beschlossen“, warnt ihn der OFPRA-Chef. „Könntet Ihr jetzt gleich abreisen?“ fragt er und legt dabei die Hände fast wie zum Gebet zusammen.

Der Sudanese ist einer der Leiter verschiedener Nationalitäten-Gruppen, mit denen das OFPRA über die Evakuierung verhandelt hat. Er berät sich mit mehreren Landsleuten und kommt dann strahlend zurück: „Ok, wir fahren, können wir nach Arras kommen?“ Arras, das ist gleich nebenan, eine Unterbringung dort wäre so gut, wie in Calais zu bleiben. Brice schüttelt grinsend den Kopf.

Auch wenn die Präfektin liebend gern einen Schlussstrich ziehen und ihre Erfolgsmeldung verkünden will: Noch geht das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Flüchtlingen und Behörden weiter. Doch auch so hat das OFPRA überraschend viel geschafft: Gut 5000 Migranten haben sich innerhalb von drei Tagen freiwillig in Einrichtungen in ganz Frankreich fahren lassen, so viel hatten nur Optimisten erwartet.

Am dritten Tag der Evakuierung rutscht die anfangs wohlgeordnete Operation zeitweilig ins Chaos. Bereits in der Nacht zum Mittwoch gibt es erste Feuer, die aber rasch gelöscht wurden. Am Morgen bricht ein größerer Brand aus. Schon weit vor dem Dschungel ist eine schwarze Rauchsäule zu sehen. Diesmal allerdings ist keine Feuerwehr im Anmarsch. Das Feuer breitet sich in Windeseile aus. Mehrere Hundertschaften CRS, kasernierte Polizei, stehen mit ihren großen Schilden bei Fuß, greifen aber nicht ein.


„Alles, was verbrennt, müssen sie nicht mehr wegräumen“

Dutzende von Flüchtlingen rennen ins Lager, über die frühere „Hauptstraße“, um zu retten, was noch zu retten ist. Auf der rechten Seite sind die großen Holzschuppen bereits in der Nacht völlig runtergebrannt und ausgeglüht.

Von dem eigenwilligen afghanischen Café direkt am Ufer eines Sees, in dem wir noch vor drei Wochen auf einer improvisierten Terrasse mit Seeblick einen süßen Tee getrunken haben, ist nur noch ein Tisch mit ein paar Stühlen übrig. Der große Holzbau ist total abgebrannt. Überall liegen explodierte Gasflaschen herum, doch das meiste ist zu grauer Asche zerfallen.

Weiter vorne kommt ein englischer Pick-up entgegen, der Fahrer schreit: „Haut ab, da vorne brennt ein Auto, das kann gleich explodieren.“ Eine englische Fotografin will weiter ins Lager hinein. Während ich sie noch warne, explodiert das brennende Auto in rund 60 Metern Entfernung auch schon.

Christian Salomé von der NGO „Auberge des Migrants“ weiß auf die Frage, warum die Feuerwehr nicht eingreift, nur eine Antwort: „Alles, was verbrennt, müssen sie nicht mehr wegräumen.“ Fassungslos starrt er auf das Lager, aus dem jetzt in immer kürzeren Abständen mal ein scharfes Krachen, mal ein dumpfer Knall zu hören ist. Während wir auf die Rauchsäulen blicken, geht im ersten Schuppen am Lagereingang ein anhaltendes Dröhnen und Ballern los. Da muss ein ganzes Gaslager gestanden haben.

Ein letzter englischer Pick-up, vollbeladen mit Gasflaschen, kommt aus der Gasse gerast, die inzwischen lichterloh brennt. Im Norden, dort, wo in der Containersiedlung die rund 1500 Minderjährigen untergebracht sind, sieht man die ersten Löschstrahlen aus dem Rauch auftauchen, der sich von schwarz auf hellgrau färbt.

Außerhalb des Lagers in ein paar hundert Meter Entfernung erklärt derweil die Präfektin Fabienne Buccio seelenruhig die Operation zum vollen Erfolg. „Bis mittags haben wir rund 5000 Migranten registriert und in Einrichtungen zur Erstaufnahme gefahren, die restlichen 1500 werden wir noch bis zum Abend registrieren, damit ist die Evakuierung abgeschlossen.“ Die Feuer, laut ihrem Stellvertreter von vier Pyromanen gelegt, die mittlerweile verhaftet seien, deutet sie allen Ernstes um zu einer „Tradition der Afghanen, das machen sie immer so, wenn sie einen Ort räumen.“

Auf die Frage, wie es in den nächsten Tagen weitergehen soll, bleibt die Präfektin die Antwort mehr oder weniger schuldig. „Wir sehen uns erst einmal die Lage an. Polizisten sind vor Ort, um zu verhindern, dass sich wieder Leute niederlassen. Aber bis jetzt haben wir keine wilden Camps gesehen, weder in der Innenstadt von Calais noch am Stadtrand.“ So kann man nur reden, wenn man ganz fest die Augen verschließt.

Salomé kommt zu einer anderen Rechnung als die Präfektin: „Wir haben vor zwei Wochen 8000 Flüchtlinge im Lager gezählt, das bedeutet, dass noch ungefähr 3000 im Lager sind – oder untergetaucht.“

Die Frage aller Fragen ist, ob die Ansammlung von Migranten in Calais nun, da das Lager in Flammen aufgegangen ist, tatsächlich der Vergangenheit angehört oder ob sich in den nächsten Wochen wieder wilde Camps bilden. Auf der Straße, die zum Lager führt, startet ein Reisebus mit Flüchtlingen, die in eine Unterkunft gebracht werden. Einige recken die Finger zum Victory-Zeichen. Die Hölle des Dschungels liegt hinter ihnen, Calais is over – zumindest für sie.

Laurent Roussel, der Wirt des Bistrots „Le Cabestan“ im Ort, glaubt nicht an die beschwörenden Worte „Calais is over“. Er hält dagegen: „Die Flüchtlinge aus dem Lager überwintern jetzt, und andere, neue werden ankommen, so lange die Fluchtursachen wie der Krieg in Syrien nicht beseitigt sind.“

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