Energiemarkt Die geheime Herrscherin der Ölreserven

Mehr als zwei Milliarden Barrel Erdöl umfassen die Reserven der Internationalen Energieagentur – 180 Millionen Barrel strömen zurzeit in den Markt. Quelle: imago images

Die Bedeutung der Internationalen Energieagentur und ihrer Ölreserven ist in der aktuellen Debatte um ein Ölembargo deutlich angestiegen. Wer steckt hinter dieser Organisation – und was ist ihre politische Agenda?

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Die Konferenz läuft noch keine Viertelstunde, da hat Fatih Birol bereits Deutschland im Visier. Der Direktor der Internationalen Energieagentur (IEA) fordert „vornehmlich auf Autobahnen“ ein Tempolimit, um Europa von der Abhängigkeit russischer Energie zu befreien. Ein politisch heikles Thema, das ist auch Patrick Graichen klar, der als Staatssekretär des deutschen Wirtschaftsministeriums an der Konferenz teilnimmt.

Mehrere hochrangige Politiker aus der EU-Kommission und mehrerer europäischer Länder treffen sich an diesem Tag zum virtuellen Gespräch, um über Europas Energieversorgung der Zukunft zu diskutieren. Das wenig bescheidene Motto der Veranstaltung lautet: „Wie man Geld spart, die Abhängigkeit von russischer Energie senkt, die Ukraine unterstützt und zugleich den Planeten rettet“. Birol und seine Organisation haben dazu praktischerweise bereits einen Zehn-Punkte-Plan ausgetüftelt. Neben dem Tempolimit sollen autofreie Sonntage her und mehr Zugfahrten als Ersatz für Flugreisen. Alle Europäer sollen wenn möglich drei Tage in der Woche aus dem Homeoffice arbeiten.

Die IEA – eine Schwesterorganisation von Greenpeace? Mitnichten. Ihr Kerngeschäft liegt eigentlich ganz woanders, in der fossilen Welt, beim Erdöl. Die Organisation mit Sitz in Paris verwaltet für ihre 31 Mitgliedsstaaten rund zwei Milliarden Barrel an Ölreserven. Die IEA ist dabei kein geschlossener Club westlicher Industrienationen. Auch in der Tagespolitik schwierige Partner wie Indien, China und Brasilien sind als assoziierte Mitglieder mit der IEA verbunden.

Die IEA bunkert aber nicht nur Öl, sondern erstellt auch regelmäßig Berichte und Prognosen über Angebot und Nachfrage am globalen Energiemarkt. In der Branche gilt vor allem der „World Energy Outlook“ als relevant für die Märkte. Und der wird bisweilen gar zum Politikum: Die Opec+, der Zusammenschluss ölproduzierender Staaten, will die Daten der IEA zur Ölnachfrage nicht mehr verwenden. Der angebliche Grund: Die IEA habe in ihren Prognosen die Nachfrage nach Erdöl als zu niedrig eingeschätzt. „Die Opec+ und vor allem Saudi-Arabien empfanden den Bericht der IEA als Affront“, sagt Carsten Fritsch, Rohstoffanalyst der Commerzbank.

Womöglich zeugt die gereizte Reaktion des Ölkartells aber auch schlicht vom Bedeutungszuwachs der IEA. Fakt ist: In der Krise macht die Möglichkeit, den Markt mit großen Mengen Erdöl zu fluten, die IEA zu einem strategischen Player auf den globalen Energiemärkten, auf den die handelnden Akteure schauen müssen. So gab die IEA wenige Wochen nach der russischen Invasion der Ukraine insgesamt knapp 180 Millionen Barrel Erdöl aus den Reserven ihrer Mitgliedsstaaten frei. Es war die größte Marktflutung in der fast 50-jährigen Geschichte der IEA. „Die Entscheidung, die Notfallreserven freizugeben, hat dazu beigetragen, die Preise zu verringern“, sagt Analyst Fritsch.

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Die Preise für Erdöl dürften in den kommenden Wochen erneut häufig Thema öffentlicher Debatten werden. Denn: Die deutsche Bundesregierung wirbt mittlerweile offen für ein europäisches Embargo auf Öl aus Russland. Bei einem kompletten Einfuhrstopp in die Europäische Union käme möglicherweise die IEA erneut ins Spiel, um wegfallende russische Importe teilweise zu kompensieren. Experten halten es für möglich, dass die IEA noch dieses Jahr eine weitere Freigabe von Ölreserven anordnet. Fritsch: „Wenn das Embargo kommt, kann die IEA noch mal nachlegen.“

Gegründet wurde die IEA in den 1970er-Jahren, kurz nach der ersten Ölkrise. Die Organisation soll in gewisser Weise ein Gegengewicht zu dem von Saudi-Arabien dominierten Ölkartell OPEC bilden. Bis heute müssen alle Mitgliedstaaten Nettoeinfuhren für 90 Tage an Erdöl als Reserve zurückhalten. Diese Reserven können dann bei akuter Knappheit die Lücken im Markt füllen. Über die Freigabe der Reserven bestimmt der Verwaltungsrat der IEA, in dem die Energieminister der jeweiligen Mitgliedsländer sitzen. Die Notfallfreigabe hat die IEA bislang erst fünf Mal angeordnet, zum ersten Mal während des Golfkriegs Anfang der Neunzigerjahre. 2005 half das IEA-Öl, um die Folgen des Hurrikans Katrina abzufedern.

Ausschließlich um die konstante Versorgung mit Öl kümmert sich die IEA allerdings schon lange nicht mehr. Die IEA hat ihr Betätigungsfeld erweitert: „Erdöl ist zwar das Brot-und-Butter Geschäft der IEA“, sagt Harald Heubaum von der SOAS University of London. Aber unter der Ägide des türkischen Ökonomen Birol hat sich die IEA auch den erneuerbaren Energien zugewandt. In dieser neuen Rolle habe „die IEA stark an Status in der Energiedebatte gewonnen“, berichtet Heubaum.

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Dazu passt die virtuelle IEA-Expertenrunde zur Rettung des Planeten nur zu gut. Und auf die Forderung von Birol nach einem Tempolimit reagiert der deutsche Staatssekretär Graichen flugs mit einer Entschuldigung: Eigentlich sei ein Tempolimit absolut selbstverständlich, aber Politik funktioniere halt nach ihren eigenen Regeln – beim Thema Tempolimit auf deutschen Autobahnen erst recht.

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