Erdoğans Wahlsieg Gespaltene Türkei, gespaltene Wirtschaft

Anhänger von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bejubeln in der Wahlnacht seinen Sieg vor dem Hauptquartier der AK-Partei in Ankara. Quelle: imago images

Der Türkei steht nach Erdoğans Wahlsieg eine schwierige Zeit bevor - wirtschaftlich und gesellschaftlich. Die Gräben innerhalb der Bevölkerung vertiefen sich weiter.

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Kurz vor Mitternacht beginnen die ersten Autokorsos in Istanbul, Feuerwerkskörper explodieren über dem Bosporus. Da ist bereits klar: Für die Opposition hat es wieder nicht gereicht. Noch aber ist da etwas Hoffnung - noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt. Von Wahlfälschungen ist die Rede. Doch wenig später zeigen auch die Ergebnisse der CHP, der größten türkischen Oppositionspartei: Recep Tayyip Erdoğan hat im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit erreicht. Es wird zu keiner Stichwahl kommen.

Während die einen feiern, trauern die anderen. Dass es Verlierer und Gewinner gibt, gehört zum Wesen einer Wahl - aber in kaum einem anderen Land sind die Gräben zwischen beiden so tief wie in der Türkei, und so groß wie in diesem Wahlkampf waren die Hoffnungen der säkularen Türken schon seit langem nicht mehr. 

Am Samstagmittag waren in Istanbul noch Hunderttausende auf den Beinen, um die Abschlusskundgebung von Herausforderer Muharrem Ince im Stadtteil Maltepe, auf der asiatischen Seite der Stadt, zu hören. Schon in der Ubahn riefen sie „Ince Baskan!“, Präsident Ince, und „Halk, Hukuk, Adalet“ - Volk, Recht und Gerechtigkeit. Keine Frau trug ein Kopftuch hier.

Die Kandidaten im Überblick
Muharrem InceDie größte türkische Oppositionspartei CHP hat in den vergangenen Jahren eine traurige Figur gemacht. Sie war kraftlos und verstaubt, eine Herausforderung für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan war sie sicher nicht. Mit dem Präsidentschaftskandidaten der CHP hat sich das geändert: Muharrem Ince (54) begeistert die Massen, zumindest jene, die nach mehr als 15 Jahren genug von Erdogan und seiner AKP haben. Sollte Erdogan bei der Präsidentenwahl am 24. Juni die absolute Mehrheit verfehlen - was Umfragen zufolge möglich ist -, dürfte Ince sein Herausforderer in der Stichwahl werden. Im ersten Wahlkampfmonat trat Ince mehr als 70 Mal auf, so eine Taktung sind die Türken sonst nur vom Amtsinhaber gewöhnt. Ince gibt sich dabei als Gegenentwurf zu Erdogan: Er verspricht, ein unparteiischer Präsident zu sein, während Erdogan sich wieder an die AKP-Spitze hat wählen lassen. Ince hat den inhaftierten Präsidentschaftskandidaten der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, im Gefängnis besucht - den Erdogan einen „Terroristen“ nennt. Die Krise mit Deutschland, das kündigt Ince in einem „Bild“-Interview an, will er beenden. Das Präsidialsystem, das auf Erdogan zurückgeht und dessen Einführung mit den Wahlen am 24. Juni abgeschlossen wird, möchte Ince wieder abschaffen. Den Ausnahmezustand - von Erdogan verhängt - will er aufheben. Bei seiner Nominierung kündigte Ince an, den von Erdogan errichteten Präsidentenpalast mit seinen mehr als 1150 Zimmern nicht zu seinem Amtssitz zu machen. Stattdessen will er den Palast in eine Bildungsstätte verwandeln. Das passt zu Ince, der früher Physiklehrer und Schuldirektor war. Nach seinen Angaben schloss er sich bereits als Jugendlicher der CHP an, die Mitte-Links-Partei versteht sich als Bewahrer des Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Ince stammt aus Yalova am Marmarameer, ist verheiratet und Vater eines Sohnes. Im Parlament sitzt Ince seit 2002 - jenem Jahr, als Erdogans AKP an die Macht kam. Quelle: dpa
Meral Aksener:Meral Aksener hat langjährige politische Erfahrung, und sie ist selbstbewusst. Beides sind Eigenschaften, die sie im Präsidentenwahlkampf gegen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gut gebrauchen kann. Die 62-Jährige tritt für ihre neu gegründete nationalkonservative Gute Partei (Iyi Parti) als Kandidatin an. Aksener war von 1996 an für rund acht Monate Innenministerin in einer Koalition der islamistischen Wohlfahrtspartei (RP) mit ihrer damaligen Partei DYP. Später saß sie für die ultranationalistische MHP im Parlament. Nachdem sie sich mit Parteichef Devlet Bahceli überworfen hatte, gründete sie im Oktober 2017 ihre Iyi-Partei. Beim Verfassungsreferendum im April 2017 warb sie - anders als Bahceli - für ein „Nein“ zu Erdogans Präsidialsystem. Im Falle eines Wahlsiegs verspricht sie die Aufhebung des Ausnahmezustands und eine Rückkehr zum parlamentarischen System. Aksener spricht die nationalistischen, religiösen und säkularen Wähler an - damit könnte sie auch Stimmen von enttäuschten Erdogan-Wählern bekommen. Sollte Aksener in eine Stichwahl gegen den Favoriten Erdogan kommen, müsste sie vor allem um die Stimmen der Kurden kämpfen. Die sehen Aksener sehr kritisch und machen sie als ehemalige Innenministerin mitverantwortlich für das harte Vorgehen von Sicherheitskräften im südöstlichen Stammgebiet der Kurden. Aksener hat Geschichte studiert und promoviert. Sie wurde im westtürkischen Izmit geboren, ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn. Sollte sie Präsidentin und nach dem neuen System damit auch Regierungschefin werden, würde Aksener in die Fußstapfen ihrer einstigen Weggefährtin in der DYP, Tansu Ciller, treten. Ciller war zwischen 1993 und 1996 Ministerpräsidentin und die erste und bislang einzige Frau in dem Amt. Quelle: dpa
Selahattin Demirtas:Er sitzt seit anderthalb Jahren wegen Terrorvorwürfen im Gefängnis und ist doch präsent wie selten: Selahattin Demirtas, Menschenrechtsanwalt, pro-kurdischer Ausnahmepolitiker und Herausforderer von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan bei der Präsidentenwahl. Auch wenn Demirtas bei der Wahl nach Umfragen abgeschlagen auf dem dritten oder vierten Rang landen dürfte, könnte er Erdogan durch seine Kandidatur in eine Stichwahl mit einem der anderen Oppositionskandidaten zwingen. Der charismatische 45-Jährige stammt aus Palu in der Osttürkei und war bis Februar Chef der pro-kurdischen HDP. Unter dem Führungsduo Demirtas und der damaligen Ko-Chefin Figen Yüksekdag schaffte die HDP 2015 erstmals den Einzug ins Parlament - Erdogans AKP kostete das damals die absolute Mehrheit. Schon bei der Präsidentenwahl im August 2014 trat Demirtas gegen Erdogan an und schaffte mit 9,8 Prozent der Stimmen einen Achtungserfolg. Demirtas setzt nicht nur auf die Unterstützung der Kurden, sondern auch auf die der Erdogan-Gegner. Er sagt: „Mir geht es darum, die Demokratie gegen eine Ein-Mann-Herrschaft zu verteidigen.“ Erdogan dagegen hält die HDP für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und nennt Demirtas einen „Terroristen“. Seit November 2016 sitzt der pro-kurdische Politiker unter anderem wegen des Vorwurfs der PKK-Mitgliedschaft in Untersuchungshaft, und zwar im westtürkischen Edirne - weit weg von seiner Frau und den beiden Töchtern, die im südosttürkischen Diyarbakir leben. Demirtas bleibt dennoch kämpferisch: Aus der Haft heraus schreibt er Artikel und Bücher, musiziert, malt und twittert über seine Anwälte an seine Anhänger: „Beißt die Zähne zusammen. Wir werden den 24. Juni in ein Fest der Demokratie verwandeln.“ Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan:Seit bald 16 Jahren bestimmt der heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan (64) die Geschicke der Türkei, und seitdem hat er noch jede Wahl gewonnen. Als seine islamisch-konservative AKP im Juni 2015 zwar stärkste Kraft wurde, aber die absolute Mehrheit im Parlament verlor, ließ er wenige Monate später neu wählen. Prompt waren die alten Machverhältnisse wieder hergestellt. In die Präsidentenwahl am 24. Juni geht Erdogan als Favorit. Ob er im ersten Wahlgang allerdings mehr als die Hälfte der Stimmen auf sich vereinen kann, ist Umfragen zufolge unklar - und schon eine Stichwahl wäre ein tiefer Kratzer in seiner Erfolgsbilanz. Aus Sicht des Westens hat sich Erdogan dramatisch gewandelt: Im Jahr 2004 wurde er als Ministerpräsident noch zum „Europäer des Jahres“ gekürt. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) lobte Erdogan für dessen „Eintreten für mehr Freiheit, einen besseren Schutz der Menschenrechte und weniger staatliche Bevormundung“. Aus Sicht seiner Kritiker steht Erdogan heute gegen alle diese Werte, die Opposition warnt vor einer „Ein-Mann-Herrschaft“. Ein Wahlmotto Erdogans lautet: „Eine große Türkei braucht einen starken Anführer“. Erdogan ist verheiratet und hat vier Kinder. Der Ausnahmepolitiker hat eine steile Karriere hingelegt, die ihm nicht in die Wiege gelegt wurde: Er wurde 1954 im Istanbuler Arbeiter- und Armenviertel Kasimpasa geboren. Als Junge verkaufte er auf der Straße Wasser und Sesamkringel, um zum Familienunterhalt beizutragen. Politische Meriten verdiente er sich von 1994 an als Bürgermeister von Istanbul. Drei Mal war er später Ministerpräsident. Weil er das Amt nach den AKP-Statuten kein viertes Mal hätte übernehmen können, ließ er sich 2014 zum Präsidenten wählen. Bislang konnte Erdogan nichts stoppen, nicht einmal der blutige Putschversuch vom Juli 2016. Sollte Erdogan die Präsidentschaftswahl gewinnen, wäre das die Krönung seiner Karriere. Mit den Wahlen wird die Einführung seines Präsidialsystems abgeschlossen - an dessen Spitze dann er als überaus mächtiger Staats- und Regierungschef stünde. Quelle: REUTERS

Ince hatte in den letzten Wochen einen erstaunlichen Wahlkampf geliefert - nicht zuletzt dadurch, dass er Erdoğan in Sachen Hemdsärmeligkeit und Haudrauf-Attitüde noch überbot. Den Amtsinhaber duzte er auch gerne mal. Besonders gut kam das in den traditionellen Hochburgen seiner Oppositionspartei CHP wie in Antalya oder Izmir an. Über zwei Millionen Menschen besuchten eine Wahlkampfveranstaltung dort am vergangenen Donnerstag. Dem 54-jährige Physiklehrer gelang es offenbar, frustrierte Wähler zu mobilisieren. Sein Vorgänger Kilicdaroğlu wirkte dagegen stets farblos.

Und: Ince konnte ein Wahlbündnis schmieden - eine schwierige Angelegenheit in der Türkei. Denn die säkulare, von Staatsgründer Atatürk 1923 gegründete CHP tut sich nach wie vor schwer mit der pro-kurdischen HDP, auch wenn Ince sich die Mühe machte, deren Kandidaten Selahattin Demirtaş im Gefängnis zu besuchen. Die dritte im Bund war Meranel Akşener, die mit ihrer Iyi-Partei, eine Abspaltung der ultrakonservativen MHP, die ein nationalistisches Programm hat. Im Wahlkampf fiel sie vor allem mit der Ankündigung auf, im Falle eines Sieges die 3,5 Millionen Syrer im Land mit Bussen in ihr Heimatland zu schicken.

Erdoğan warb dagegen mit einem „Devam“, weiter so. Noch mehr Infrastrukturprojekte wie der megalomane Istanbul Kanal, eine künstliche Schifffahrtsstraße parallel zum Bosporus und einer Reihe von kleineren städtischen Infrastrukturprojekten. Am Samstag war es sein Flugzeug, das als erstes auf dem neuen, dritten Flughafen von Istanbul landete, der im Herbst erst offiziell eröffnet werden soll. Das kommt gut an bei seinen Wählern, strapaziert aber weiter die öffentlichen Finanzen.

Wirtschaftliche Turbulenzen stehen bevor

Erdoğan wird es nicht leicht haben in den nächsten fünf Jahren. Der Türkei steht wirtschaftlich eine schwierige Zeit bevor. Um das Land vor einer Wirtschaftskrise nach der Niederschlagung des Putsches vom Juli 2016 zu bewahren, hatte die Regierung einen Kreditsicherungsfonds aufgelegt. Damit stimulierte Ankara die Kreditvergabe an Unternehmen. Der Plan ging zunächst auf: Im ersten Quartal dieses Jahres wuchs das türkische BIP um 7,4 Prozent. Auf den internationalen Devisenmärkten aber sah man dies eher kritisch. Denn der Preis für das Wachstum ist hoch. Die Inflation stieg auf über zehn Prozent. In der Folge stürzte die Lira in den vergangenen Monaten regelrecht ab. Bekam man Anfang 2016 für einen Euro noch drei türkische Lira, hat sich der Kurs mittlerweile bei eins zu 5,5 Lira vorübergehend stabilisiert. 

Verantwortlich dafür sind auch externe Faktoren, vor allem die Zinswende in den USA. Seit einigen Monaten verlässt viel Kapital die Schwellenländer und wandert zurück über den Atlantik. Ein Übriges tun die Handelskonflikte zwischen der USA und China, sowie mit der EU.

Die schwache Lira belastet viele Unternehmen. „Türkische Banken haben zwar wenig Fremdwährungsrisiken, allerdings sind die Unternehmen oft hoch in Euro und Dollar verschuldet“, sagt Ronald Schneider von Raiffeisen Capital Management in Wien. Tatsächlich mussten bereits schon einige Großkonzerne sich um Umschuldungen bemühen. „Die Türkei muss also, wenn sie die Währung und Inflation stabilisieren will, mit einer deutlichen Einbremsung der Konjunktur rechnen“, so Schneider.

Zahlen und Fakten zur Türkei

Über ein ausgeklügeltes Wirtschaftsprogramm verfügte die Opposition allerdings auch nicht. Inces Forderung nach einem höherem Mindestlohn, mehr Investitionen in die Bildung und ein Industrie-4.0-Programm klangen gut, waren aber eher das Resultat eines auf die Schnelle zusammengeschusterten Pakets mit ein paar Schlagworten. Eine wirkliche Vision fehlte der Opposition. Auch die pro-kurdische HDP verzichtet auf ein Wirtschaftsprogramm nahezu völlig. 

Langfristig muss das Land sein Leistungsbilanzdefizit verringern. Importiert werden vor allem Öl und Gas aus Russland, im Vergleich dazu sind die Exporte zu gering. Ankara bleibt also nur die Möglichkeit, auf der Wertschöpfungskette weiter nach oben zu klettern und so die Exporte zu steigern. Dafür wiederum sind mehr Investitionen in Bildung nötig. Das wird Jahre dauern - und die harte Politik gegen Andersdenkende, die Massenverhaftungen, die Suspendierung von kritischen Professoren trägt ganz sicher nicht dazu bei, den Bildungsstand zu verbessern. 

Immerhin - noch gibt es im AKP-Lager ein Team um den stellvertretenden Premierminister Mehmet Simsek mit wirtschaftlichem Sachverstand. Zuletzt wurden aber immer wieder Gerüchte laut, wonach Simsek von Bord gehe. Erdoğan selbst fällt in Wirtschaftsfragen oft durch extreme Inkompetenz auf. Immer wieder wettert er gegen eine „internationale Zinslobby“, zudem hängt er der kruden Theorie an, hohe Leitzinsen würden die Inflation erst schaffen. Vor internationalen Investoren in London kündigte er jüngst an, die Zentralbank stärker zu kontrollieren. Kurz danach mussten Simsek und Co nochmals nach London reisen, um die Äußerungen ihres Chefs abzuschwächen. Am Tag nach dem Wahlsieg stabilisierte sich die türkische Lira, was damit zu tun hat, dass die Märkte sich von einem klaren Ausgang mehr Stabilität als von einer Zitterpartie erhoffen. Dass der alten neuen Regierung eine Trendumkehr gelingt, ist unwahrscheinlich.

Weiter vertiefen wird sich die Spaltung der türkischen Gesellschaft. Der Graben ist nicht nur politisch zu verstehen, sondern auch wirtschaftlich. „Mit den AKP-nahen Unternehmen Geschäfte machen? Nie im Leben!“, sagt Deniz Kaya, eine junge Unternehmerin aus Istanbul. Ihren echten Namen möchte sie nicht nennen. Dagegen berichtet ein Bauunternehmer: „Wer in dieser Branche erfolgreich sein will, muss AKP-Mitglied sein“.

„Manchmal kommt es mir vor, als seien wir zwei Völker“, sagt Kaya. Ein säkulares und ein konservatives. Nimmt man die Kurden noch dazu, sind es drei. Sie alle leben in einem Land mit einem Präsidenten, der nun so viel Macht hat, wie keiner vor ihm.

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