Kurz vor Mitternacht beginnen die ersten Autokorsos in Istanbul, Feuerwerkskörper explodieren über dem Bosporus. Da ist bereits klar: Für die Opposition hat es wieder nicht gereicht. Noch aber ist da etwas Hoffnung - noch sind nicht alle Stimmen ausgezählt. Von Wahlfälschungen ist die Rede. Doch wenig später zeigen auch die Ergebnisse der CHP, der größten türkischen Oppositionspartei: Recep Tayyip Erdoğan hat im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit erreicht. Es wird zu keiner Stichwahl kommen.
Während die einen feiern, trauern die anderen. Dass es Verlierer und Gewinner gibt, gehört zum Wesen einer Wahl - aber in kaum einem anderen Land sind die Gräben zwischen beiden so tief wie in der Türkei, und so groß wie in diesem Wahlkampf waren die Hoffnungen der säkularen Türken schon seit langem nicht mehr.
Am Samstagmittag waren in Istanbul noch Hunderttausende auf den Beinen, um die Abschlusskundgebung von Herausforderer Muharrem Ince im Stadtteil Maltepe, auf der asiatischen Seite der Stadt, zu hören. Schon in der Ubahn riefen sie „Ince Baskan!“, Präsident Ince, und „Halk, Hukuk, Adalet“ - Volk, Recht und Gerechtigkeit. Keine Frau trug ein Kopftuch hier.
Ince hatte in den letzten Wochen einen erstaunlichen Wahlkampf geliefert - nicht zuletzt dadurch, dass er Erdoğan in Sachen Hemdsärmeligkeit und Haudrauf-Attitüde noch überbot. Den Amtsinhaber duzte er auch gerne mal. Besonders gut kam das in den traditionellen Hochburgen seiner Oppositionspartei CHP wie in Antalya oder Izmir an. Über zwei Millionen Menschen besuchten eine Wahlkampfveranstaltung dort am vergangenen Donnerstag. Dem 54-jährige Physiklehrer gelang es offenbar, frustrierte Wähler zu mobilisieren. Sein Vorgänger Kilicdaroğlu wirkte dagegen stets farblos.
Und: Ince konnte ein Wahlbündnis schmieden - eine schwierige Angelegenheit in der Türkei. Denn die säkulare, von Staatsgründer Atatürk 1923 gegründete CHP tut sich nach wie vor schwer mit der pro-kurdischen HDP, auch wenn Ince sich die Mühe machte, deren Kandidaten Selahattin Demirtaş im Gefängnis zu besuchen. Die dritte im Bund war Meranel Akşener, die mit ihrer Iyi-Partei, eine Abspaltung der ultrakonservativen MHP, die ein nationalistisches Programm hat. Im Wahlkampf fiel sie vor allem mit der Ankündigung auf, im Falle eines Sieges die 3,5 Millionen Syrer im Land mit Bussen in ihr Heimatland zu schicken.
Erdoğan warb dagegen mit einem „Devam“, weiter so. Noch mehr Infrastrukturprojekte wie der megalomane Istanbul Kanal, eine künstliche Schifffahrtsstraße parallel zum Bosporus und einer Reihe von kleineren städtischen Infrastrukturprojekten. Am Samstag war es sein Flugzeug, das als erstes auf dem neuen, dritten Flughafen von Istanbul landete, der im Herbst erst offiziell eröffnet werden soll. Das kommt gut an bei seinen Wählern, strapaziert aber weiter die öffentlichen Finanzen.