Erdoğans Wahlsieg Gespaltene Türkei, gespaltene Wirtschaft

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Wirtschaftliche Turbulenzen stehen bevor

Erdoğan wird es nicht leicht haben in den nächsten fünf Jahren. Der Türkei steht wirtschaftlich eine schwierige Zeit bevor. Um das Land vor einer Wirtschaftskrise nach der Niederschlagung des Putsches vom Juli 2016 zu bewahren, hatte die Regierung einen Kreditsicherungsfonds aufgelegt. Damit stimulierte Ankara die Kreditvergabe an Unternehmen. Der Plan ging zunächst auf: Im ersten Quartal dieses Jahres wuchs das türkische BIP um 7,4 Prozent. Auf den internationalen Devisenmärkten aber sah man dies eher kritisch. Denn der Preis für das Wachstum ist hoch. Die Inflation stieg auf über zehn Prozent. In der Folge stürzte die Lira in den vergangenen Monaten regelrecht ab. Bekam man Anfang 2016 für einen Euro noch drei türkische Lira, hat sich der Kurs mittlerweile bei eins zu 5,5 Lira vorübergehend stabilisiert. 

Verantwortlich dafür sind auch externe Faktoren, vor allem die Zinswende in den USA. Seit einigen Monaten verlässt viel Kapital die Schwellenländer und wandert zurück über den Atlantik. Ein Übriges tun die Handelskonflikte zwischen der USA und China, sowie mit der EU.

Die schwache Lira belastet viele Unternehmen. „Türkische Banken haben zwar wenig Fremdwährungsrisiken, allerdings sind die Unternehmen oft hoch in Euro und Dollar verschuldet“, sagt Ronald Schneider von Raiffeisen Capital Management in Wien. Tatsächlich mussten bereits schon einige Großkonzerne sich um Umschuldungen bemühen. „Die Türkei muss also, wenn sie die Währung und Inflation stabilisieren will, mit einer deutlichen Einbremsung der Konjunktur rechnen“, so Schneider.

Zahlen und Fakten zur Türkei

Über ein ausgeklügeltes Wirtschaftsprogramm verfügte die Opposition allerdings auch nicht. Inces Forderung nach einem höherem Mindestlohn, mehr Investitionen in die Bildung und ein Industrie-4.0-Programm klangen gut, waren aber eher das Resultat eines auf die Schnelle zusammengeschusterten Pakets mit ein paar Schlagworten. Eine wirkliche Vision fehlte der Opposition. Auch die pro-kurdische HDP verzichtet auf ein Wirtschaftsprogramm nahezu völlig. 

Langfristig muss das Land sein Leistungsbilanzdefizit verringern. Importiert werden vor allem Öl und Gas aus Russland, im Vergleich dazu sind die Exporte zu gering. Ankara bleibt also nur die Möglichkeit, auf der Wertschöpfungskette weiter nach oben zu klettern und so die Exporte zu steigern. Dafür wiederum sind mehr Investitionen in Bildung nötig. Das wird Jahre dauern - und die harte Politik gegen Andersdenkende, die Massenverhaftungen, die Suspendierung von kritischen Professoren trägt ganz sicher nicht dazu bei, den Bildungsstand zu verbessern. 

Immerhin - noch gibt es im AKP-Lager ein Team um den stellvertretenden Premierminister Mehmet Simsek mit wirtschaftlichem Sachverstand. Zuletzt wurden aber immer wieder Gerüchte laut, wonach Simsek von Bord gehe. Erdoğan selbst fällt in Wirtschaftsfragen oft durch extreme Inkompetenz auf. Immer wieder wettert er gegen eine „internationale Zinslobby“, zudem hängt er der kruden Theorie an, hohe Leitzinsen würden die Inflation erst schaffen. Vor internationalen Investoren in London kündigte er jüngst an, die Zentralbank stärker zu kontrollieren. Kurz danach mussten Simsek und Co nochmals nach London reisen, um die Äußerungen ihres Chefs abzuschwächen. Am Tag nach dem Wahlsieg stabilisierte sich die türkische Lira, was damit zu tun hat, dass die Märkte sich von einem klaren Ausgang mehr Stabilität als von einer Zitterpartie erhoffen. Dass der alten neuen Regierung eine Trendumkehr gelingt, ist unwahrscheinlich.

Weiter vertiefen wird sich die Spaltung der türkischen Gesellschaft. Der Graben ist nicht nur politisch zu verstehen, sondern auch wirtschaftlich. „Mit den AKP-nahen Unternehmen Geschäfte machen? Nie im Leben!“, sagt Deniz Kaya, eine junge Unternehmerin aus Istanbul. Ihren echten Namen möchte sie nicht nennen. Dagegen berichtet ein Bauunternehmer: „Wer in dieser Branche erfolgreich sein will, muss AKP-Mitglied sein“.

„Manchmal kommt es mir vor, als seien wir zwei Völker“, sagt Kaya. Ein säkulares und ein konservatives. Nimmt man die Kurden noch dazu, sind es drei. Sie alle leben in einem Land mit einem Präsidenten, der nun so viel Macht hat, wie keiner vor ihm.

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