Die Bilder vom Putsch in der Türkei waren frisch, die Teilnehmer des Asem-Gipfels zwischen Europa und Asien wollten am vorvergangenen Samstag rasch nach Hause. Es gab nur ein Problem: Viele konnten den Tagungsort Ulan-Bator in der Mongolei nicht mehr verlassen. Die Chefs kleinerer Teilnehmerstaaten des Gipfels, aber auch EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der über kein eigenes Fluggerät verfügt, waren auf Linienflüge gebucht – und zwar über Istanbul. Doch alle Flüge am dortigen Atatürk-Flughafen waren gestrichen, türkische Militär-Putschisten hatten ihn besetzt. Kurzerhand entstand auf dem Dschingis-Khan-Flughafen in Ulan-Bator eine Art Mitflugzentrale: Bundeskanzlerin Angela Merkel packte etwa den Schweizer Bundespräsidenten Johann Schneider-Ammann ein.
Ähnlich wie den Politpromis erging es vielen Tausenden Reisenden, die sich vorletztes Wochenende plötzlich in Bodrum, Izmir oder Antalya wiederfanden, obwohl sie dort eigentlich gar nicht hin wollten. Denn rund um den zentralen Umsteigeflughafen der Türkei herrschte Chaos, es flogen Kampfjets statt Linienmaschinen. Wenn sie die Schallmauer durchbrachen, klang das, als fliege ein Teil der Stadt und des Flughafens in die Luft. Die amerikanische Flugbehörde Federal Aviation Administration (FAA) strich sämtliche Flüge nach Istanbul.
Für die wichtigste Fluggesellschaft des Landes, Turkish Airlines, ist die Betriebsstörung eine Katastrophe. Schließlich gilt das unkomplizierte Umsteigen in Istanbul als eines ihrer stärksten Buchungsargumente. Der Atatürk-Flughafen dort sollte Transitstätte für Fluggäste aus der ganzen Welt werden und mit den erfolgreichen Hubs arabischer Airlines konkurrieren.
Dass dieses Ziel nun akut in Gefahr gerät, kommt für Turkish Airlines zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Schon im ersten Quartal 2016 schrieb die Fluglinie gut 500 Millionen Dollar Verlust. Ihre Aktie notiert fast 50 Prozent tiefer als im Vorjahr. Dabei galt Turkish Airlines einst als Vorzeigeunternehmen der türkischen Wirtschaft, sie war mit zweistelligen Wachstumsraten ein Angstgegner europäischer Fluglinien.
2005 übernahm Temel Kotil den damals angeschlagenen Konzern. Kotil gilt als Vertrauter von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, beide stammen aus Rize an der Schwarzmeerküste. Zusammen stiegen sie auf – Kotil machte die Fluglinie groß, Erdoğan das Land. Auf vier Säulen ruhte die Wachstumsstrategie der Flugline: mehr Badeurlauber, mehr Städtetouristen, mehr Geschäftsreisende und mehr Passagiere auf Langstrecken. Turkish Airlines drängte in die Welt, als Sponsor der Fußball-EM ebenso wie als Werbepartner des neuen „Batman“-Films, und avancierte damit auch zum schillernden Aushängeschild eines selbstbewussten, aufstrebenden Landes.
Und jetzt? Steht Turkish Airlines wieder beispielhaft für die Türkei – nur diesmal als Symbol eines akuten Vertrauensverlustes. Und eines drohenden Abstiegs.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Hubert Braun kennt sich mit Umwälzungen aus. Der Türkeichef des Pharmakonzerns Bayer war in Russland tätig, als dort 1991 das Militär putschte und Boris Jelzin mit seinem mutigen Klettern auf einen Panzer die Demokratie (vorläufig) verteidigte. So schnell bringt ein gescheiterter Putsch Braun nicht aus der Ruhe. „Bayer ist seit 60 Jahren in der Türkei und denkt langfristig, da bleiben wir optimistisch“, sagt er. Aber er sagt auch: „Aktuelle politische Ereignisse mögen unser Geschäft kurzfristig beeinflussen.“
Die Anzeichen dafür mehren sich: Zwei seit Langem geplante Delegationsreisen deutscher Wirtschaftsvertreter in die Türkei wurden kurzfristig abgesagt. Zahlreiche Unternehmen haben ihren Mitarbeitern Reisen in das Land aus Sicherheitsgründen verboten. „Die Wirtschaft blickt unsicheren Zeiten entgegen“, sagt Jan Noether von der deutsch-türkischen Industrie- und Handelskammer in Istanbul.
Touristen bleiben aus
Besonders schwierig ist die angespannte politische Lage für den Tourismus der Türkei, der rund ein Zehntel zur Wirtschaftsleistung beiträgt. Die Branche schwächelt schon länger, weil russische Touristen nach den Sanktionen von Präsident Wladimir Putin gegen die Türkei das Land mieden, ihre Buchungen brachen um 92 Prozent ein. Aber auch 30 Prozent weniger deutsche Touristen kamen zuletzt. „Depressiv“ nennt Helena Schönbaum vom Tourismus-Netzwerk in Antalya die Stimmung. „Neue Verhaftungswellen werden das Bild der Türkei im Rest Europas weiter beschädigen“, sagt Schönbaum.
Auch bei Bosch Siemens, mit rund 30.000 Beschäftigten der größte deutsche Arbeitgeber in der Türkei, ist man nervös: „Wir beobachten die Lage genau“, heißt es dort. Mercedes-Benz Türk, zuständig für eine Omnibus- und Lkw-Produktionsstätte im Land, gibt sich ebenfalls „sehr besorgt“. Namentliche Zitate lehnten die Konzerne ab, zu groß ist die Angst, sich politisch zu äußern.
Moritz Marwein gibt sich offener. Der junge Deutsche betreibt mit seiner Partnerin, einer Halbtürkin, in Istanbul einen kleinen Lieferdienst namens Jüs. Die beiden verkaufen und liefern gepresste Säfte an die kosmopolitische Elite der Stadt. Sie leben und arbeiten in Cihangir, einem weltoffenen Viertel. Doch dort kommt es seit Tagen zu Krawallen zwischen Anhängern von Erdoğan und dessen Gegnern. Marwein denkt nun nach, ob ein Franchise-Unternehmen in Deutschland sinnvoll sei, als „Ausstiegsoption, falls es noch schlimmer wird“.
So wie der deutsche Unternehmer klingen viele säkulare Türken und Ausländer. Sie fürchten, dass die zornigen Massen, die gerade auf den Straßen Istanbuls die Wiedereinführung der Todesstrafe fordern, sich vielleicht bald gegen andere Minderheiten richten – oder gegen sie selbst.
Das ist die Gülen-Bewegung
Der heute 75-jährige Prediger Fethullah Gülen hat sich ursprünglich als einflussreicher islamischer Prediger einen Namen gemacht. Bis in die Achtzigerjahre hinein wirkte er als Iman in verschiedenen türkischen Städten. Mit seinen Predigten und Büchern über den Islam, über Bildungs- und Wissenschaftsfragen soziale Gerechtigkeit und interreligiösen Dialog begeisterte Gülen viele Gläubige. Seit 1999 lebt der gesundheitlich angeschlagene Prediger im US-Staat Pennsylvania. Er war nach einer Anklage wegen staatsgefährdender Umtriebe emigriert.
Gülen steht hinter der Bewegung Hizmet („Dienst“). Hizmet sieht einen ihrer Schwerpunkte in der Verbesserung von Bildungschancen.
Für die meisten innenpolitischen Krisen macht Präsident Recep Tayyip Erdogan seit längerem die mächtige Bewegung Gülens mitverantwortlich. Erdogan wirft seinem einstigen Verbündeten vor, einen Staat im Staate errichten zu wollen und seinen Sturz zu betreiben. Die Regierung geht massiv gegen mutmaßliche Gülen-Anhänger vor, die sie vor allem bei der Polizei und in der Justiz vermutet. Die Gülen-Bewegung wurde zur Terrrororganisation erklärt, viele ihrer führende Köpfe stehen auf einer Liste der meistgesuchten Terroristen der Türkei.
Unruhe und Instabilität sind für keinen Wirtschaftsstandort gut. Die Türkei aber ist als Schwellenland besonders verwundbar. Das Land ist auf ausländisches Kapital angewiesen, denn die Sparquote im Land bleibt gering, die Abhängigkeit von Rohstoffimporten hoch. Um das chronische Leistungsbilanzdefizit, gemessen an der Wirtschaftsleistung 4,5 Prozent, auszugleichen, braucht die Türkei ausländisches Kapital. Noch am Samstag sackte die türkische Lira um fast fünf Prozent ab. Danach erholte sie sich zwar leicht, was aber nur auf die Erklärung der Zentralbank zurückzuführen ist, „unbegrenzt Liquidität“ zur Verfügung zu stellen.
Die Mutter aller Säuberungen
Das Vertrauen des Auslands schwindet in dem Maße, wie die Regierung rabiat auf den Putsch reagiert: Statt auf Versöhnung zu setzen, spaltet sie das Land weiter. Erdoğan nutzt die Situation für „Säuberungen“ in bislang kaum vorstellbarem Ausmaß. Rund 50.000 Menschen – Polizisten, Militärs, Richter, Lehrer – saßen bereits Mitte der Woche in Haft oder wurden suspendiert. Die türkische Hochschulverwaltung erteilte Akademikern pauschal ein Ausreiseverbot.
Zweifel am EU-Flüchtlingsabkommen
In Brüssel betrachtet man diese Entwicklung voller Sorge. „Erdoğan arbeitet jetzt erst recht auf ein Ein-Mann-System hin“, heißt es dort. Visafreiheit für türkische Bürger, als Teil des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei für Oktober geplant, „ist nach ganz hinten in den Kühlraum gerutscht“, sagt ein hoher EU-Beamter. Niemand rechnet mehr damit, dass die Türkei wie gewünscht ihre Antiterrorgesetzgebung verändert.
Und führt Erdoğan die Todesstrafe wieder ein, sind die – ohnehin längst zur Farce gewordenen – Verhandlungen über einen EU-Beitritt endgültig Makulatur.
Brüssel verfügt über Druckmittel: Von den drei Milliarden Euro, die der Türkei im Rahmen des Flüchtlingsdeals versprochen wurden, sind erst 750 Millionen Euro ausgezahlt. Weitere 1,25 Milliarden sind verplant. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die nun schnell fließen werden“, sagt ein Entscheider. Allerdings befindet sich Brüssel in einer Zwickmühle. Das Geld soll schließlich an Flüchtlinge fließen, etwa damit syrische Kinder wieder Unterricht erhalten.
Es mehren sich aber ohnehin die Zweifel am EU-Flüchtlingsabkommen mit den Türken. Kann es gültig bleiben, wenn Erdoğan noch autoritärer und brutaler regiert? Was passiert, sollten sich die politischen Spannungen innerhalb des Landes verstärken? Flüchtlinge, die in der Türkei politisch verfolgt werden, sind nämlich vom aktuellen Abkommen noch ausgeschlossen.
„Wir haben uns in dieses Abkommen gestürzt, ohne eine Strategie zu haben“, klagt ein Brüsseler Entscheider. Hinzu kommt: Seit dem vergangenen Wochenende, als Teile des Militärs putschten, sind bereits mehr Flüchtlinge aus der Türkei über Bulgarien nach Serbien gelangt. „Es sind nur zweistellige Zahlen pro Tag, aber das genügt für einen Rückstau in Serbien“, heißt es.
Ein bisschen Hoffnung
Mitte Juli hatte Erdoğan mit dem Versprechen überrascht, 2,7 Millionen syrischen Flüchtlingen im Land die türkische Staatsbürgerschaft zu erteilen. Doch hinter der vermeintlichen Menschenfreundlichkeit verbirgt sich vermutlich politisches Kalkül. Die vielen neuen Wahlberechtigten, so rechnet Erdoğan vermutlich, würden aus Dankbarkeit wohl seine AKP wählen.
Doch bei allen Negativmeldungen gilt es, eins nicht zu vergessen: Die Türkei ist in politischer Hinsicht auch ein Land der Strohfeuer – sie brennen schnell und verlieren ebenso schnell an Kraft. Daran klammern sich zumindest Optimisten. „Wir hatten bloß einen schlechten Traum“, sagt Mehmet Şimşek, der als liberal geltende stellvertretende Premierminister. „Es gibt keinen Grund zur Panik.“ Viel wird davon abhängen, ob die Säuberungen rasch ein Ende haben und Erdoğan das Land nach seiner Machtfestigung nicht noch weiter spaltet. Ob der Präsident dazu aber die Größe hat?
Immerhin: Vom Flughafen Atatürk in Istanbul fliegen die Maschinen wieder im normalen Takt. Auch die amerikanische Flugbehörde FAA lässt Turkish Airlines wieder in den USA landen. Vielleicht erreicht Fluglinienchef Temel Kotil doch noch sein großes Ziel: bis 2023, dem 100. Geburtstag der Türkei, den Umsatz von Turkish Airlines auf 24 Milliarden US-Dollar zu verdoppeln. Präsident Erdoğan möchte, dass sein Land dann zu den zehn größten Volkswirtschaften der Welt gehört. Um beides zu erreichen, brauchen beide Männer das Vertrauen der Welt. Und sie brauchen Wachstum. Sonst droht eine sehr harte Landung.