An einem sonnigen Sonntagnachmittag drängen sich in Istanbul Menschen auf den Fähren, die zu den Prinzeninseln übersetzen, einem beliebten Ziel für Tagesausflüge. Der Ansturm ist nicht nur wegen des schönen Wetters so groß. Seit Wochen, genauer seit dem missglückten Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 15. Juli, ist der öffentliche Nahverkehr quer durch die türkische Hauptstadt umsonst.
Und nicht nur das: Kostenlose Hotdogs stehen in der Nähe des zentral gelegenen Taksim-Platzes bereit, wo eine große Tribüne aufgebaut ist. Immer noch feiern dort jede Nacht Menschen mit Fahnen und Tröten ausgelassen den Sieg über die Putschisten.
Die Begeisterung ist echt. Aber sie steht in verwirrendem Widerspruch zu dem Unbehagen, mit dem der Rest Europas – und viele Deutsche – auf die jüngsten Entwicklungen in der Türkei schauen, auf Erdoğans hartes Durchgreifen gegen seine echten und vermeintlichen Gegner. Rund 60.000 Menschen hat er bisher suspendiert, darunter Lehrer, Soldaten, Professoren, Richter und Anwälte. Die neue Härte irritiert auch die Märkte: Ausländische Direktinvestitionen in der Türkei dürften einbrechen, verheerend für ein Schwellenland mit geringer Sparquote. Die internationale Ratingagentur Standard and Poor’s hat die Türkei als Hochrisikoland eingestuft, gleichauf mit Bangladesch, wie demütigend.
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Präsident Erdoğan fiel nichts Besseres ein, als die Einstufung „türkenfeindlich“ zu nennen. Der raue Ton passt zur verzerrten Wahrnehmung. Die Europäer verstehen die Türken nicht mehr, und in der Türkei sieht selbst eine Frau wie Nuray Mert – immerhin Moderatorin einer Fernsehshow, die nach Kritik an Erdoğan abgesetzt wurde – ihr Land zu Unrecht in eine „antiwestliche, nationalistische“ Ecke gedrückt. „Die gegenseitige Entfremdung ist dramatisch“, sagt Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative, einer der Köpfe hinter dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei.
Genau jenes mühsam errungene Abkommen mit dem Kernziel, die Zahl der Flüchtlinge von der Türkei über die Ägäis gen Griechenland drastisch zu verringern, droht nun zwischen die Fronten zu geraten. Scheitert es, läge auch Angela Merkels Flüchtlingspolitik (wieder) in Scherben. Bilder überfüllter Flüchtlingsboote kann die „Wir schaffen das“- Kanzlerin gerade überhaupt nicht gebrauchen.
Entsprechend hoch ist die Anspannung auf allen Seiten, neu angeheizt durch die Verwirrung über den gescheiterten Militärputsch. Erdoğans Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu keilt per Interview, komme die versprochene Visafreiheit für Türken nicht rasch, sei sein Land „gezwungen“, von der EU-Flüchtlingsvereinbarung Abstand zu nehmen. Deutsche Politiker wie SPD-Chef Sigmar Gabriel keilen zurück, Europa dürfe sich „nicht erpressen lassen“.
Nur – wie schlimm wäre ein Platzen des Flüchtlingsabkommens wirklich? Wie groß ist also Erdoğans Verhandlungsmacht?