Als Teile der Armee am vergangenen Freitag versuchten, in der Türkei die Macht zu übernehmen, gingen Tausende dagegen auf die Straße. In türkischen Städten wie Ankara und Istanbul – aber auch in Berlin. Etwa 3000 Menschen versammelten sich in der Nacht zum vergangenen Samstag vor der türkischen Botschaft im Bezirk Tiergarten. Unter ihnen war auch Tahir Sözen. Bei den letzten beiden Wahlen hat er die Regierungspartei AKP gewählt. Als die Putschisten die Machtübernahme verkündeten, zog er vor die Botschaft.
Erol Özkaraca stand in jener Nacht nicht dort. Er war auf dem Weg in den Urlaub nach Istanbul, als Soldaten in Panzern die Brücken über den Bosporus sperrten. Stundenlang saß er am Istanbuler Flughafen Sabiha Gökcen fest. Der Neuköllner mit türkischen Wurzeln sitzt für die SPD im Berliner Abgeordnetenhaus. Özkaraca ist erklärter Gegner der Politik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.
Der große Rückhalt, den die Regierung in Ankara auch unter türkischstämmigen Deutschen genießt, besorgt ihn. Viele Einwanderer, gerade in sozialen Brennpunkten, fühlten sich in Deutschland nicht zugehörig. Erdogan spreche mit seinem autoritären Stil das Selbstwertgefühl dieser Menschen an und vermittele den Eindruck eines starken Staatsmannes, der sich auch um die Landsleute im Ausland kümmert. „Diese Leute denken dann „Der macht das richtig“ und „Die anderen sind alle Terroristen“, sagt er. Von dem Phänomen weiß auch Demonstrant Sözen: „Es gibt diese jungen Leute, die sich nach Stärke sehnen. Und wenn sie hier ausgegrenzt werden, suchen sie die Stärke in Erdogan.“
Gescheiterte Integrationsbiografien könnten jedoch keine Erklärung für die große Unterstützung der AKP hierzulande sein, sagt Politikwissenschaftlerin Gülistan Gürbey von der Freien Universität Berlin. Die AKP habe eine soziale Basis, auch hier in Deutschland. Ihre hohe Zustimmung hierzulande spiegele die politischen Verhältnisse und die Polarisierung der Gesellschaft in der Türkei wider. „Denn Fakt ist, wenn es um die Integration in den Lebensbereichen Bildung, Ausbildung, Beschäftigung geht, dann ist die Mehrheit gut integriert“, sagt Gürbey.
Zu ihr gehört auch Sözen. Er kam vor 42 Jahren als Schulkind nach Berlin. Heute vertritt er die islamische Gemeinschaft Milli Görüs im Berliner Forum der Religionen, engagiert sich in einem Bürgerverein und ist Mitbegründer einer Mietergemeinschaft. „Ich interessiere mich sowohl für die türkische als auch für die deutsche Politik, wieso sollte das ein Gegensatz sein?“ Eine Spaltung oder Radikalisierung der türkischen Gemeinde in Berlin sieht Sözen nicht. „Wir waren schon immer politisch“, sagt er.
Die deutsche Öffentlichkeit mache es sich zu leicht, wenn sie den Widerstand gegen den Putsch als reine Solidaritätsbekundung mit Erdogan abtue. „Alle vier Parteien haben den Putschversuch verurteilt“, sagt Sözen. Das Scheitern des Putsches habe die demokratischen Kräfte einander wieder näher gebracht.
Auch der Senat sieht in der Reaktion der türkischstämmigen Berliner keinen besonderen Anlass zur Sorge. „Dass sich die aktuellen Vorgänge und Konflikte in der Türkei auch auf die Berlinerinnen und Berliner mit türkischen Wurzeln auswirken, ist seit jeher zu beobachten“, sagt die in der Türkei geborene Integrationssenatorin Dilek Kolat (SPD). Ihr Sprecher ergänzt, sie werde in Gesprächen mit Bürgern häufig mit Fragen zur türkischen Politik konfrontiert. „Wenn sich die Senatorin dann aber in Ruhe dazu äußert, geht es meistens auch ganz schnell wieder um die Parkbank vor der Wohnungstür.“
Wie wirkt der Ausnahmezustand in der Türkei über die Grenzen hinaus?
Zehntausende Soldaten und Staatsdiener sind in der Türkei bereits entlassen oder verhaftet worden. Jetzt ist der Ausnahmezustand auch offiziell verkündet. Die Situation nach dem gescheiterten Putschversuch könnte auch hierzulande spürbar werden.
Die Bundesregierung beobachtet die Vorgänge in der Türkei mit zunehmender Besorgnis. Das rigorose Vorgehen der türkischen Regierung nach dem gescheiterten Putschversuch „übersteigt eine angemessene und verhältnismäßige Antwort“, sagte Innenminister Thomas de Maizière am Donnerstag. Eine Fluchtbewegung von Oppositionellen gibt es zwar noch nicht, das kann sich aber ändern.
Quelle: dpa
Jeder, der sich politisch verfolgt fühlt, kann Asyl in Deutschland beantragen. Die Zahl der asylsuchenden Türken war bisher relativ gering. Im ersten Quartal 2016 gingen bei den Behörden gerade mal 456 Anträge ein. Das ist Platz 20 in der Rangliste der Herkunftsländer. Die Anerkennungsquote lag im vergangenen Jahr bei 1,9 Prozent und damit höher als der Durchschnitt aller Länder von 0,7 Prozent.
Das mag sein, generell kann man das aber nicht sagen. Letztlich kommt es auf den Einzelfall an - zum Beispiel ob jemand nachweisen kann, dass Freunde oder Verwandte bereits verhaftet worden sind. Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl geht davon aus, dass die Behörden in Deutschland angesichts der unübersichtlichen Lage in der Türkei Entscheidungen über Asylanträge von dort zunächst zurückstellen. Das werde bei Putschversuchen oder gerade ausbrechenden Bürgerkriegen meistens so gemacht, sagt Bernd Mesovic von Pro Asyl.
Die Türkei hat sich dazu verpflichtet, Flüchtlinge zurückzunehmen, die versuchen, über die Ägäis nach Griechenland zu kommen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) geht davon aus, dass die Vereinbarungen von den Ereignissen in der Türkei nicht berührt werden. Grundlage des Abkommens bleibe, „dass wir Sicherheiten haben für die Menschen, die von Griechenland zurückgeschickt werden in die Türkei“, sagte sie am Mittwochabend. „Ich habe bis jetzt keinerlei Anzeichen, dass die Türkei an dieser Stelle nicht zu den Verpflichtungen steht.“ Die Entwicklung werde aber sehr intensiv beobachtet.
Das wird nicht in Zweifel gezogen. Die Türkei ist 1952 der Nato beigetreten und damit noch vor der Bundesrepublik Deutschland. Alle drei Militärputsche in der Türkei - 1960, 1971 und 1980 - hatten keinen Einfluss auf die Nato-Mitgliedschaft. Aus Nato-Sicht ist entscheidend, dass die Türkei ihre Verpflichtungen im Verteidigungsbündnis erfüllt. Das ist bisher der Fall. Allerdings versteht sich die Nato auch als politisches Bündnis. Deswegen können auch ihr Verstöße gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit nicht egal sein.
Bisher macht die Bundesregierung keinerlei Anstalten, die 240 auf der Luftwaffenbasis Incirlik stationierten deutschen Soldaten abzuziehen. Sie sind mit „Tornado“-Aufklärungsflugzeugen und einem Tankflugzeug an den Angriffen auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) beteiligt. Die Soldaten bekommen von der Lage im Land nur wenig mit, verlassen ihren Stützpunkt nur selten zu dienstlichen Zwecken. Die Zusammenarbeit mit der Türkei im Kampf gegen den IS funktioniert und wird bisher auch nicht in Frage gestellt.
Die EU hat eine rote Linie gezogen: Wird die Todesstrafe wieder eingeführt, ist für die Türkei kein Platz in der Europäischen Union. Aber auch unabhängig davon ist ein Beitritt derzeit unrealistischer denn je. Zu weit ist die Türkei von den Standards entfernt, die von der EU beim Thema Rechtsstaatlichkeit verlangt werden.
Das Grundgesetz sah ursprünglich keinen Ausnahmezustand oder Notstand vor. 1968 setzte die damalige große Koalition mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit gegen den erbitterten Widerstand der selbsternannten außerparlamentarischen Opposition (APO) 28 Grundgesetzänderungen durch, die so genannten Notstandsgesetze. Danach dürfen bei einer existenziellen Bedrohung des Bundes oder eines Landes oder bei einer Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung per Gesetz - also nur mit Zustimmung des Bundestages - die Freizügigkeit sowie das Brief- und Fernmeldegeheimnis eingeschränkt werden. Zudem darf die Bundeswehr im Inneren unter bestimmten Bedingungen eingesetzt werden.
Die 3000 türkischstämmigen Berliner, die sich vor der Botschaft versammelten, kümmerten sich rasch wieder um ihren Alltag. Als die Nachricht vom Scheitern des Putsches den Protest erreichte, löste sich die Menschenmenge friedlich wieder auf. Seitdem ist in Berlin von Protesten nicht mehr viel zu sehen. Kolat erwartet von der türkischen Gemeinde, „dass auch weiterhin unser friedliches und gewaltfreies Zusammenleben nicht in Frage gestellt wird“.
Das steht für Sözen außer Frage. „Die türkische Gemeinde lebt jetzt seit 60 Jahren hier. Sie hat sich in der Mehrheit noch nie zu Gewalt hinreißen lassen.“ Özkaraca möchte sich nicht festlegen. Keiner könne sagen, was jetzt passiert. Entscheidend sei, wie sich Erdogan jetzt verhalte. Das sieht Integrationsforscherin Gürbey ähnlich. „Wenn die Situation in der Türkei eskaliert, werden wir diese Eskalation auch hier zu spüren bekommen. Davon können wir ausgehen.“