Manche Beobachter glaubten, in der Woche nach dem Putsch vom 15. Juli sei für kurze Zeit in der Türkei ein Fenster aufgegangen. Für ein paar Tage erfasste viele Türken eine Welle der Solidarität - für Demokratie gegen Militärherrschaft. Diesen Schwung hätte die Führung nutzen können, um eine nationale Versöhnung der tief gespaltenen türkischen Gesellschaft herbeizuführen.
Vorbei: Die Gräben sind heute tiefer denn je. Knapp 100.000 Beamte, Lehrer, Journalisten und Soldaten wurden seitdem verhaftet. Die Parteispitze der kurdischen HDP wurde kurzerhand verhaftet. Zusammen mit der nationalistischen MHP wird Erdoğan damit die nötigen Stimmen zusammenbringen, um eine Verfassungsänderung durchzubringen, und die parlamentarische Demokratie in ein Präsidialsystem nach französischem und US-amerikanischen Vorbild umzubauen.
Die neue Macht wird Erdoğan nutzen, um die Türkei nach seinem Vorstellungen umzubauen. Zu ihrem 100. Geburtstag 2023 wird das Land dann aller Wahrscheinlichkeit dem Russland Putins ähneln - und Erdogans Porträt wird dann gleich auf mit dem von Kemal Atatürk hängen.
Schlüsselstaat Türkei
Die Republik Türkei ist laut der Verfassung von 1982 ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Regiert wird das Land von Ministerpräsident Binali Yildirim und dem Kabinett. Staatsoberhaupt ist Recep Tayyip Erdogan, als erster Präsident wurde er 2014 direkt vom Volk gewählt. Im türkischen Parlament sind vier Parteien vertreten, darunter - mit absoluter Mehrheit - die islamisch-konservative AKP von Erdogan. Parteien müssen bei Wahlen mindestens 10 Prozent der Stimmen auf sich vereinen, um ins Parlament einziehen zu können. Die Türkei ist zentralistisch organisiert, der Regierungssitz ist Ankara. (dpa)
Die Türkei ist seit 1999 Kandidat für einen EU-Beitritt, seit 2005 wird darüber konkret verhandelt. Würde die Türkei beitreten, wäre sie zwar der ärmste, aber nach Einwohnern der zweitgrößte Mitgliedstaat, bei derzeitigem Wachstum in einigen Jahren wohl der größte.
Als Nachbarstaat von Griechenland und Bulgarien auf der einen Seite und Syrien sowie dem Irak auf der anderen Seite bildet die Türkei eine Brücke zwischen der EU-Außengrenze und den Konfliktgebieten des Nahen und Mittleren Ostens.
Seit Beginn des Syrien-Konflikts ist die Türkei als Nachbarstaat direkt involviert. Rund 2,7 Millionen syrische Flüchtlinge nahm das Land nach eigenen Angaben auf. Die türkische Luftwaffe bombardiert allerdings auch kurdische Stellungen in Syrien und heizt so den Kurdenkonflikt weiter an.
1952 trat die Türkei der Nato bei. Das türkische Militär - mit etwa 640 000 Soldaten und zivilen Mitarbeitern ohnehin eines der größten der Welt - wird bis heute durch Truppen weiterer Nato-Partner im Land verstärkt. Im Rahmen der sogenannten nuklearen Teilhabe sollen auch Atombomben auf dem Militärstützpunkt Incirlik stationiert sein.
Was dagegen nicht passieren wird: Ein Umbau des Landes in einen islamistischen Gottesstaat wie dem Iran. Das ist ein von Islamophobie gespeistes Vorurteil, was vor allen in rechtskonservativen Kreisen umhergereicht wird. Die Trump-nahe Website Breitbart.com spricht etwa von einem "Islamist Police State" und will die Türkei aus der Nato werfen.
Erdoğan ist zwar ein konservativer Autokrat - doch ein Islamist ist er nicht; wenn man unter Islamismus die Einführung der Scharia versteht oder zumindest eine Unterordnung des Staatswesens unter die Religion. In wie weit der Laizismus - der im Übrigen ein sehr weitreichender ist - in einer neuen Verfassung, die 2017 wahrscheinlich mit der Einführung des Präsidialsystems kommen wird, noch verankert sein wird - darüber wird gestritten. Völlig abgeschafft wird er aber mit Sicherheit nicht.
Dass die Religion, vor allem der sunnitische Islam, eine größere Rolle in der türkischen Gesellschaft spielt als vor 20 Jahren, ist unbestritten.
Der Islam ist sichtbarer geworden. Die Steuern auf Alkohol wurden erhöht und Moscheen im ganzen Land gebaut. Auf den Straßen werden mehr Kopftücher getragen als vor zehn und vor allem als vor 20 Jahren. Dabei aber hat nicht die Zahl der Trägerinnen zugenommen, sondern deren Selbstbewusstsein. Viele Kopftuchträgerinnen empfinden die Aufhebung des Kopftuchverbots in öffentlichen Einrichtungen als Befreiung von der "säkularen Diktatur". In ihren Augen dürfen sie seit Erdoğan endlich das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen.
Hinzu kommen die arabischen Touristen, von denen viele vollverschleiert sind, und mittlerweile in vielen Ecken das Straßenbild Istanbuls prägen. Und dann ist da das berüchtigte Zitate Erdoğans aus den Neunzigern, als er auf einer Wahlkampfveranstaltung sagte, "die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen".
Die Lösung heißt nicht "Islam"
Erdoğan selbst ist ein Machtpolitiker, der geschickt darin ist, die Frömmigkeit seiner Wähler zu nutzen. "Aller demonstrativen Frömmigkeit und aller konservativen-moralischen Forderungen zum Trotz ist Erdoğan kein Islamist", schreibt die Journalisten Çiğdem Akyol in ihrem 2016 erschienen Buch "Erdoğan: Eine Biografie". "In Erdoğans Türkei heißt die Lösung nicht "Islam", sondern "Erdoğan". Er sorgt für Wohlstand, Wachstum und Sicherheit, Erdoğan geht die Konflikte der gesamten Region an."
Zwar spricht Erdoğan immer wieder von konservativen Rollenmodellen, schreibt Akyol, die rechtliche Gleichstellung der Frau aber wurde und wird aber sogar vorangetrieben.
Und schließlich haben islamistische Positionen unter den Türken traditionell wenig Rückhalt.
Es gibt Islamisten in der Türkei, und viele von ihnen finden in der AKP ihre politische Heimat. Nur machen sie laut einer Umfrage des PEW-Centers in Washington aus dem Jahr 2013 maximal zwölf Prozent der Bevölkerung aus. (In Ägypten liegt dieser Prozentsatz bei 74, in Pakistan bei 84 Prozent). Ihr politisches Gewicht ist gering. Die AKP ist eine Dachpartei, unter der sich viele konservative und auch wirtschaftsliberale Strömungen unter der Person Erdoğan sammeln. Die Einführung der Scharia ist der großen Mehrheit ein Gräuel.
Das kann trotzdem bedeuten, dass die Religion in der Türkei in den nächsten Jahren eine noch wichtigere Rolle einnehmen wird. Nur ist sie für den türkischen Präsidenten Mittel zur Macht und nicht Selbstzweck. Der Islam nützt ihm, um breite, fromme und konservative Wählerschichten zu mobilisieren, und so seine Macht auszubauen.
Sein pragmatisches Verhältnis zum Islam zeigt sich auch in seiner Außenpolitik: Zwar suchte Erdoğan die Nähe zu der Muslimbruderschaft in Kairo, brach die Beziehungen zu Israel ab, nachdem ein türkisches Schiff versucht hatte, die Blockade von Gaza zu treffen, und lieferte wohl auch Waffen an den IS. Mittlerweile aber kämpfen türkische Truppen in Syrien und im Nordirak gegen den Islamischen Staat. Die Beziehungen zu Israel wurden wie die zur Russland im Juni dieses Jahres mit einer diplomatischen Volte normalisiert. Das ist eine zwar eine erratische Außenpolitik voller Missgeschicke, der Fanatismus eines Gottesstaats aber sieht anders aus.
Fakten zum Streit um die Nähe der Türkei zu Islamisten
Ankara bestreitet das vehement. Doch die regierungskritische Zeitung „Cumhuriyet“ hatte früher geheime Dokumente veröffentlicht, die türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien im Jahr 2015 belegen sollen. Chefredakteur Can Dündar und ein Mitarbeiter wurden daraufhin von einem türkischen Gericht verurteilt. Dündar hat seinen Posten kürzlich aufgegeben und hält sich aus Angst vor weiterer Verfolgung im Ausland auf.
Deutsche Sicherheitsexperten schließen das zwar nicht aus. Zugleich wird aber betont, eine IS-Zugehörigkeit sei nicht unbedingt leicht erkennbar. Verletzte würden sich kaum als Terroristen zu erkennen geben oder als IS-Mitglieder ausweisen.
Seit Jahren gilt die Türkei als Haupttransitland auch für deutsche Islamisten, die sich dem IS in Syrien anschließen wollen. Zwar beteuert Ankara, man habe solche Reisenden abgefangen und in ihre Herkunftsländer abgeschoben. Europäische Sicherheitsbehörden haben ein solches Vorgehen in größerem Umfang aber nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur bisher nicht wahrgenommen.
NRW-Innenminister Ralf Jäger (SPD) äußert sich desillusioniert. Im Bayerischen Rundfunk sagt er: „Die Türkei ist die Drehscheibe für ausländische Kämpfer, die dem IS zugeführt werden und man hat den Eindruck, dass die Türkei nicht mit aller Konsequenz dagegen vorgeht, dass sich Islamisten in ihrem Land tummeln können.“
Der Sprecher von de Maizière räumte am Mittwoch zwar Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit den türkischen Sicherheitsbehörden ein, die man nicht naiv ausblende. Die Türkei sei aber der wichtigste Partner im Anti-IS-Kampf. In der jüngeren Vergangenheit habe es zudem „nennenswerte Fortschritte in der Zusammenarbeit“ gegeben.
Sicherheitspraktiker in Deutschland äußern sich skeptisch. Zwar arbeite man bei der Islamismusbekämpfung punktuell zusammen. Bei konkreten Anschlägen gebe es auch einen Datenaustausch. Im Großen und Ganzen sei die Kooperation aber eher schwierig.
Solche Spekulationen waren schon am Dienstag aufgetaucht, nachdem der als vertraulich eingestufte Passus zur Türkei als „Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ des Nahen und Mittleren Ostens öffentlich geworden war. Die Diplomaten im Außenamt befürchten, derart kritische Einschätzungen könnten ihre Arbeit erschweren. In Berlin wurde gemutmaßt, deswegen könnten Kanzleramt und Innenressort die Kollegen absichtlich übergangen haben, um ein Veto zu den brisanten Äußerungen zu verhindern. Möglicherweise habe die Union ein starkes kritisches Signal an Präsident Recep Tayyip Erdogan senden wollen.
Das Innenministerium hat eine peinliche, aber plausible Erklärung dafür, dass es das Außenamt nicht wie vorgeschrieben in die Beantwortung der entsprechenden Anfrage der Linksfraktion eingebunden hatte: Dem Sachbearbeiter sei schlicht ein Fehler unterlaufen. Von anderer Regierungsseite wurde es als absurd bezeichnet, Merkel könne ausgerechnet eine Anfrage der Linksfraktion nutzen, um dem mächtigen Türken ein Signal zu senden. Die Kanzlerin äußere sich auch öffentlich kritisch.
Das lässt sich noch nicht sagen. Das türkische Außenministerium wies die kritische Einordnung zwar zurück und verlangte eine Klärung. Aber eine offizielle diplomatische Reaktion blieb bislang aus. Auch Erdogan äußerte sich zunächst nicht.
Die Bundesregierung hat kein Interesse, den Streit anzuheizen. Das haben die ausweichenden Äußerungen von Regierungssprecher Steffen Seibert und seinen Kollegen vom Außen- und Innenministerium gezeigt. Seibert sagte am Mittwoch, aus Sicht der Bundesregierung habe sich am deutsch-türkischen Verhältnis nichts geändert. Merkel werde Erdogan etwa beim G20-Gipfel der führenden Industrie- und Schwellenländer (G20) Anfang September in China sehen.
Zu vergleichen ist das am ehesten mit Erdoğans neuem, alten Männerfreund Wladimir Putin. Auch der setzt seit Jahren auf eine Revitalisierung der Orthodoxie und bindet konservative Wähler mit markanten Sprüchen.
Auch mit Donald Trump dürfte sich Erdoğan zunächst gut verstehen. Die Hoffnungen, dass dieser einer Auslieferung Fetullah Gülens zustimmt, sind zumindest höher, als sie das bei Hillary Clinton gewesen wären.
Erdoğan passt so gesehen gut in die autoritär-konservative Welle, die gerade die ganze Welt zu erfassen scheint: Trump in den USA, Putin in Russland, Modi in Indien. Sie alle setzen auf einen Mix aus Nationalismus, Religiosität, Staatskapitalismus, Zensur und konservativen Werten. Solche Charaktere verstehen sich gut - bis sie sich streiten.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.