Erdoganismus in der Türkei Erdoğan sticht Allah

Die Türkei wird erdoğanisiert, nicht islamisiert. Als Partner wird das Land dann ähnlich schwierig wie das Russland Putins.

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Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa

Manche Beobachter glaubten, in der Woche nach dem Putsch vom 15. Juli sei für kurze Zeit in der Türkei ein Fenster aufgegangen. Für ein paar Tage erfasste viele Türken eine Welle der Solidarität - für Demokratie gegen Militärherrschaft. Diesen Schwung hätte die Führung nutzen können, um eine nationale Versöhnung der tief gespaltenen türkischen Gesellschaft herbeizuführen.

Vorbei: Die Gräben sind heute tiefer denn je. Knapp 100.000 Beamte, Lehrer, Journalisten und Soldaten wurden seitdem verhaftet. Die Parteispitze der kurdischen HDP wurde kurzerhand verhaftet. Zusammen mit der nationalistischen MHP wird Erdoğan damit die nötigen Stimmen zusammenbringen, um eine Verfassungsänderung durchzubringen, und die parlamentarische Demokratie in ein Präsidialsystem nach französischem und US-amerikanischen Vorbild umzubauen.

Die neue Macht wird Erdoğan nutzen, um die Türkei nach seinem Vorstellungen umzubauen. Zu ihrem 100. Geburtstag 2023 wird das Land dann aller Wahrscheinlichkeit dem Russland Putins ähneln - und Erdogans Porträt wird dann gleich auf mit dem von Kemal Atatürk hängen.

Schlüsselstaat Türkei

Was dagegen nicht passieren wird: Ein Umbau des Landes in einen islamistischen Gottesstaat wie dem Iran. Das ist ein von Islamophobie gespeistes Vorurteil, was vor allen in rechtskonservativen Kreisen umhergereicht wird. Die Trump-nahe Website Breitbart.com spricht etwa von einem "Islamist Police State" und will die Türkei aus der Nato werfen.

Erdoğan ist zwar ein konservativer Autokrat - doch ein Islamist ist er nicht; wenn man unter Islamismus die Einführung der Scharia versteht oder zumindest eine Unterordnung des Staatswesens unter die Religion. In wie weit der Laizismus - der im Übrigen ein sehr weitreichender ist - in einer neuen Verfassung, die 2017 wahrscheinlich mit der Einführung des Präsidialsystems kommen wird, noch verankert sein wird - darüber wird gestritten. Völlig abgeschafft wird er aber mit Sicherheit nicht.

Dass die Religion, vor allem der sunnitische Islam, eine größere Rolle in der türkischen Gesellschaft spielt als vor 20 Jahren, ist unbestritten.

Der Islam ist sichtbarer geworden. Die Steuern auf Alkohol wurden erhöht und Moscheen im ganzen Land gebaut. Auf den Straßen werden mehr Kopftücher getragen als vor zehn und vor allem als vor 20 Jahren. Dabei aber hat nicht die Zahl der Trägerinnen zugenommen, sondern deren Selbstbewusstsein. Viele Kopftuchträgerinnen empfinden die Aufhebung des Kopftuchverbots in öffentlichen Einrichtungen als Befreiung von der "säkularen Diktatur". In ihren Augen dürfen sie seit Erdoğan endlich das Kopftuch in der Öffentlichkeit tragen.

Hinzu kommen die arabischen Touristen, von denen viele vollverschleiert sind, und mittlerweile in vielen Ecken das Straßenbild Istanbuls prägen. Und dann ist da das berüchtigte Zitate Erdoğans aus den Neunzigern, als er auf einer Wahlkampfveranstaltung sagte, "die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufspringen".

Die Lösung heißt nicht "Islam"

Erdoğan selbst ist ein Machtpolitiker, der geschickt darin ist, die Frömmigkeit seiner Wähler zu nutzen. "Aller demonstrativen Frömmigkeit und aller konservativen-moralischen Forderungen zum Trotz ist Erdoğan kein Islamist", schreibt die Journalisten Çiğdem Akyol in ihrem 2016 erschienen Buch "Erdoğan: Eine Biografie". "In Erdoğans Türkei heißt die Lösung nicht "Islam", sondern "Erdoğan". Er sorgt für Wohlstand, Wachstum und Sicherheit, Erdoğan geht die Konflikte der gesamten Region an."

Zwar spricht Erdoğan immer wieder von konservativen Rollenmodellen, schreibt Akyol, die rechtliche Gleichstellung der Frau aber wurde und wird aber sogar vorangetrieben.

Und schließlich haben islamistische Positionen unter den Türken traditionell wenig Rückhalt.

Es gibt Islamisten in der Türkei, und viele von ihnen finden in der AKP ihre politische Heimat. Nur machen sie laut einer Umfrage des PEW-Centers in Washington aus dem Jahr 2013 maximal zwölf Prozent der Bevölkerung aus. (In Ägypten liegt dieser Prozentsatz bei 74, in Pakistan bei 84 Prozent). Ihr politisches Gewicht ist gering.  Die AKP ist eine Dachpartei, unter der sich viele konservative und auch wirtschaftsliberale Strömungen unter der Person Erdoğan sammeln. Die Einführung der Scharia ist der großen Mehrheit ein Gräuel.

Das kann trotzdem bedeuten, dass die Religion in der Türkei in den nächsten Jahren eine noch wichtigere Rolle einnehmen wird. Nur ist sie für den türkischen Präsidenten Mittel zur Macht und nicht Selbstzweck. Der Islam nützt ihm, um breite, fromme und konservative Wählerschichten zu mobilisieren, und so seine Macht auszubauen.

Sein pragmatisches Verhältnis zum Islam zeigt sich auch in seiner Außenpolitik: Zwar suchte Erdoğan die Nähe zu der Muslimbruderschaft in Kairo, brach die Beziehungen zu Israel ab, nachdem ein türkisches Schiff versucht hatte, die Blockade von Gaza zu treffen, und lieferte wohl auch Waffen an den IS. Mittlerweile aber kämpfen türkische Truppen in Syrien und im Nordirak gegen den Islamischen Staat. Die Beziehungen zu Israel wurden wie die zur Russland im Juni dieses Jahres mit einer diplomatischen Volte normalisiert. Das ist eine zwar eine erratische Außenpolitik voller Missgeschicke, der Fanatismus eines Gottesstaats aber sieht anders aus.

Fakten zum Streit um die Nähe der Türkei zu Islamisten

Zu vergleichen ist das am ehesten mit Erdoğans neuem, alten Männerfreund Wladimir Putin. Auch der setzt seit Jahren auf eine Revitalisierung der Orthodoxie und bindet konservative Wähler mit markanten Sprüchen.

Auch mit Donald Trump dürfte sich Erdoğan zunächst gut verstehen. Die Hoffnungen, dass dieser einer Auslieferung Fetullah Gülens zustimmt, sind zumindest höher, als sie das bei Hillary Clinton gewesen wären.

Erdoğan passt so gesehen gut in die autoritär-konservative Welle, die gerade die ganze Welt zu erfassen scheint: Trump in den USA, Putin in Russland, Modi in Indien. Sie alle setzen auf einen Mix aus Nationalismus, Religiosität, Staatskapitalismus, Zensur und konservativen Werten. Solche Charaktere verstehen sich gut - bis sie sich streiten.

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