Erdogans Referendum Tag der Entscheidung in der Türkei

Das Verfassungsreferendum in der Türkei läuft, der Ausgang der Abstimmung ist noch offen. Umfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin. Kann Erdogan sein Präsidialsystem durchbringen? Oder droht ihm eine Schlappe?

  • Teilen per:
  • Teilen per:
In der Türkei ist am Sonntag das Referendum über die von Präsident Recep Tayyip Erdogan angestrebte Verfassungsänderung angelaufen. Quelle: AP

Seit Sonntagmorgen 6.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind die Wahllokale in 32 Ostprovinzen geöffnet, eine Stunde später begann die Stimmabgabe auch in den 49 westlichen Distrikten des Landes. 55,3 Millionen Türkinnen und Türken sind aufgerufen, in einer Volksabstimmung über eine neue Verfassungsordnung zu entscheiden. Nachdem die Große Nationalversammlung, das türkische Parlament, die neuen Verfassungsartikel im Januar mit Dreifünftelmehrheit billigte, haben nun die Wähler das letzte Wort.

Es geht um die Einführung eines Präsidialsystems, das Staatschef Recep Tayyip Erdogan wesentlich erweiterte Befugnisse geben und das Parlament weitgehend entmachten würde. Erdogan verspricht den Türken mit dem neuen System mehr politische und wirtschaftliche Stabilität, Kritiker fürchten eine Diktatur. Der Ausgang des Referendums könnte weitreichende Folgen für die Zukunft des Landes und die Beziehungen zum Westen haben. Setzt sich Erdogan mit seinen Plänen durch und führt er, wie angekündigt, die Todesstrafe wieder ein, würde die Türkei ihren Status als EU-Beitrittskandidat verlieren. Das könnte auch Auswirkungen auf das Flüchtlingsabkommen haben.

Zum Abschluss des Wahlkampfes griff Erdogan noch einmal kräftig in die Tasten und schlug schrille anti-europäische Töne an: „Die Schminke im Gesicht Europas löst sich auf“, rief der Präsident bei einer Kundgebung in Giresun an der Schwarzmeerküste. „Unter dem Make-Up kommt das faschistische, rassistische, fremdenfeindliche und islamfeindliche Gesicht zum Vorschein“. Erdogan wirbt für die geplante Verfassungsänderung damit, das Präsidialsystem werde dem Land „dauerhafte Stabilität, Wachstum und Wohlstand“ bringen sowie eine „effiziente Bekämpfung des Terrors“ ermöglichen.

Dazu sollen auch Hinrichtungen gehören. Am Samstag bekräftigte Erdogan bei seiner Abschlusskundgebung in Istanbul vor jubelnden Anhängern die Absicht, nach der Verfassungsänderung die Todesstrafe wieder einzuführen – eines seiner Lieblingsthemen seit dem gescheiterten Putschversuch vor neun Monaten. „Meine Entscheidung für die Todesstrafe ist offensichtlich“, rief Erdogan. Das Referendum am Sonntag werde „den Weg dafür öffnen“.

Mit der Verfassungsänderung würde das passive Wahlalter von 25 auf 18 Jahre gesenkt und die Zahl der Abgeordneten der Nationalversammlung von 550 auf 600 erhöht. Aber die Volksvertreter hätten fast nichts mehr zu sagen. Unter dem vorgeschlagenen Präsidialsystem könnte Erdogan Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen oder den Notstand ausrufen, ohne das Parlament zu fragen. Auch bei der Berufung und Entlassung von Ministern und der Aufstellung des Staatshaushalts würde die Nationalversammlung nicht mehr mitwirken. Erdogan wäre in Personalunion Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender. Präsidentschafts- und Parlamentswahlen fänden unter dem neuen System alle fünf Jahre gleichzeitig statt. Damit wäre es wahrscheinlicher, dass der jeweilige Präsident im Parlament eine Mehrheit hat. Und wenn die Volksvertreter nicht mitspielen? Dann könnte der Staatschef das Parlament nach Gutdünken auflösen.

Der Präsident ernennt nach dem neuen System im Alleingang die Rektoren der Universitäten und hochrangige Staatsbeamte. Er bekäme auch mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann er künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das mutmaßlich von ihm kontrollierte Parlament beruft weitere sieben. Dem Gremium, das unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig ist, sollen künftig außerdem der vom Präsidenten berufene Justizminister und sein Staatssekretär angehören. Von den 15 Verfassungsrichtern könnte Erdogan zwölf ernennen.

„Erhebliche Behinderungen“ für Gegner der Reform


Im Wahlkampf dominierte ein Wort: „Evet“, Ja – also die Zustimmung zu der geplanten Verfassungsänderung. Erdogan persönlich absolvierte Kundgebungen in rund 40 der 81 Provinzen, obwohl ihn die Verfassung eigentlich zur Neutralität verpflichtet. In den überwiegend regierungstreuen Medien kam die Nein-Kampagne, die vor allem von Nichtregierungsorganisationen und der größten Oppositionspartei CHP getragen wurde, nur am Rande zu Wort. Der Wahlkampf wurde von Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) beobachtet. Die Organisation sprach von „erheblichen Behinderungen“ für die Gegner der Verfassungsänderung, beispielsweise durch die Einschränkung der Versammlungsfreiheit unter dem Ausnahmezustand, der seit dem Putschversuch vom Juli 2016 gilt. Erdogan reagierte ungehalten auf die Kritik: Die OSZE überschreite damit ihr Mandat. „Kennt Eure Grenzen“, kanzelte Erdogan bei einer Kundgebung im zentralanatolischen Konya die Beobachter ab.

Die 35 OSZE-Gesandten beobachten auch die Abstimmung an diesem Sonntag. Die Stimmzettel sind zweigeteilt: In der linken Hälfte steht auf weißen Grund das Wort „Evet“, in der rechten Hälfte auf braunem Grund das Wirt „Hayir“, Nein. Die Wähler markieren mittels eines Stempels mit der Aufschrift „tercih“ (Auswahl) das Feld ihrer Wahl. In den Wahllokalen dürfen Vertreter aller Parlamentsparteien die Abstimmung und die Stimmenauszählung beobachten. Die Wahllokale schließen in den Ostprovinzen um 15.00 Uhr MESZ, in den westlichen Regionen eine Stunde später.

Wahlberechtigt waren auch rund 2,7 Millionen Auslandstürken, darunter 1,4 Millionen in Deutschland. Die im Ausland lebenden Wähler konnten vorab in 57 Ländern ihre Stimme abgeben. Davon machten nach offiziellen Angaben 1,33 Millionen Gebrauch. Die Stimmzettel wurden bereits in der vergangenen Woche in versiegelten Säcken nach Ankara geflogen. Dort werden sie nach der Schließung der Wahllokale ausgezählt. Die Stimmen der Auslandstürken könnten besondere Bedeutung haben. Denn unter ihnen hat Erdogan überdurchschnittlich viele Anhänger, wie frühere Wahlen zeigten.

Wählerbefragungen und Hochrechnungen wird es am Wahlabend nicht geben. Wann Auszählungsergebnisse veröffentlicht werden dürfen, entscheidet der Oberste Wahlrat. Mit ersten Resultaten wird am Sonntagabend gerechnet. Die Umfragen lassen keine gesicherte Prognose zum Ausgang der Abstimmung zu. In den meisten seit Anfang April erhobenen Umfragen liegen die Befürworter der Verfassungsänderung zwar leicht vorn. Der Vorsprung zum Nein-Lager bewegt sich aber oft innerhalb der Fehlertoleranz. Erdogan selbst sagte am Freitag: „Einige Prognosen zeigen unter 55 Prozent Ja-Stimmen, andere zwischen 55 und 60 Prozent.“

Billigen die Wähler die Verfassungsreform, werden die neuen Regelungen schrittweise umgesetzt. Die Veränderungen in der Justiz sollen unmittelbar in Kraft treten. Auch das bisherige Verfassungsgebot zur parteipolitischen Neutralität des Präsidenten wird sofort aufgehoben. Einer der ersten Schritte nach einem Ja-Votum dürfte sein, dass Erdogan wieder Mitglied der von ihm mitbegründeten Regierungspartei AKP wird und sich auf einem Sonderparteitag zum Vorsitzenden wählen lässt. Die ersten gemeinsamen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen unter dem neuen System sollen planmäßig im November 2019 stattfinden. Danach bekäme Erdogan seine volle Machtfülle, vorausgesetzt er gewinnt die Wahl. Erdogan könnte den Urnengang jedoch vorziehen – nicht zuletzt angesichts einer sich kontinuierlich verschlechternden Wirtschaftslage.

Stimmen die Wähler mehrheitlich mit Nein, sind die Entwicklungen kaum kalkulierbar. Für Erdogan, der bisher ein Dutzend Wahlkämpfe bestritten und alle gewonnen hat, wäre es die schlimmste Niederlage seiner politischen Karriere. Wie fanatisierte Erdogan-Anhänger auf einen solchen Ausgang der Abstimmung reagieren würden, ist völlig offen. An den Istanbuler Finanzmärkten wären heftige Turbulenzen zu erwarten. Die Lira käme unter Druck, die ohnehin auf einem 16-Jahres-Hoch angelangte Inflation würde angefeuert. Die Zentralbank müsste wohl mit Zinserhöhungen gegensteuern. Das würde die ohnehin schwächelnde Konjunktur weiter bremsen.

Erdogan erklärte zwar am Samstag: „Ich verstehe diejenigen, die Nein sagen, weil das Demokratie ist.“ Dass er ein mehrheitliches Nein einfach hinnimmt und sich in die Grenzen der bisherigen Verfassung zurückzieht, ist aber nicht zu erwarten. Der Erdogan-Berater Mehmet Ucum kündigte bereits an, wenn die Verfassungsänderung am Sonntag keine Mehrheit finde, werde man die Vorlage überarbeiten und erneut zur Abstimmung stellen. Eine Rückkehr zum bisherigen System werde es jedenfalls nicht geben, sagte Ucum der Nachrichtenagentur Bloomberg.

Beobachter erwarten, dass Erdogan im Fall einer Niederlage Neuwahlen zum Parlament herbeiführen wird. Sein Kalkül könnte sein, dass die Kurdenpartei HDP, deren Führung mittlerweile hinter Gittern sitzt, und die ultranationalistische MHP, die in der Frage der Verfassungsreform tief gespalten ist, nicht mehr den Sprung ins nächste Parlament schaffen. Erdogans AKP könnte dann auf eine Zweidrittelmehrheit hoffen und so das Präsidialsystem in der Nationalversammlung durchsetzen – gegen das Volk.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%