Die WirtschaftsWoche und die Gemeinnützige Hertie-Stiftung schreiben zum dritten Mal den Essaypreis „Demokratie und Wirtschaft“ aus. Der Preis ist mit insgesamt 12.000 Euro dotiert. Die Beiträge können in deutscher und englischer Sprache verfasst sein und bis zum 4. September 2022 eingereicht werden. Nähere Informationen unter https://www.ghst.de/essaypreis/. Dieter Schnaas, Textchef und Autor der WirtschaftsWoche, ist Jurymitglied und Mitorganisator des Essaypreises – und erläutert im Interview, welchen Beitrag der Preis zur Klärung der Frage leisten kann, wie Demokratie und Marktwirtschaft gegen die Diktatoren und Populisten dieser Welt wieder in die Offensive kommen.
Hertie-Stiftung: Herr Schnaas, in welchem Verhältnis stehen Demokratie und Wirtschaft zueinander?
Dieter Schnaas: In einem zunehmend komplizierten Verhältnis. Die Grundannahme westlicher liberaler Gesellschaften, dass Marktwirtschaft, Kapitalismus und Demokratie sich friktionslos wechselseitig begünstigten, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Auch machen zu viele Schwellenländer die Erfahrung, dass andere Entwicklungsmodelle zum Wohlstand führen können. Denken wir zum Beispiel an Singapur oder China. Die autokratischen Regierungen dieser Länder zeigen uns, dass in sehr kurzer Zeit sehr große Wachstumszuwächse zu erreichen sind, die nicht unbedingt mit Demokratie einhergehen müssen. Insofern ist die liberale Selbsterzählung, dass wirtschaftliche Freiheit und ökonomische Freiheit in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen, nicht mehr gültig. Diesem Grundbefund, der unabweisbar ist, haben sich die liberalen Demokratien heute zu stellen.
Was kann der Essaypreis für Demokratie und Wirtschaft vor diesem Hintergrund leisten?
Der Essaypreis passt perfekt in die Zeit, weil sich die liberalen Demokratien mehr denn je herausgefordert sehen. Im Überschwang nach dem Mauerfall meinten manche Beobachter, an einem „Ende der Geschichte“ angelangt zu sein. Die liberalen Demokratien müssten sich nurmehr ein wenig vervollkommnen, denn im Prinzip sei auch der Rest der Welt so sehr von ihren zivilisatorischen und pazifizierenden Vorzügen überzeugt, dass ihr Triumphzug nicht zu stoppen sei. Ein kolossaler Irrtum.
Warum das?
Die politische und wirtschaftliche Freiheit der Menschen wird heute von Islamisten verachtet, von Russland bekriegt, von China mit Füßen getreten. Wir sind in Europa mehrheitlich davon überzeugt, dass Demokratie und Wirtschaft die Grundvoraussetzungen für ein gelingendes Miteinander und Wohlstandszuwächse sind, können uns aber weniger denn je darauf verlassen, dass andere Staaten und Gesellschaften das auch so sehen. Im Gegenteil: Es gibt eine scharfe Systemkonkurrenz. Der Essaypreis lotet nicht zuletzt diese Spannungen aus.
Was ist mit Systemkonkurrenz genau gemeint?
Wir haben es, grob gesprochen, mit drei verschiedenen Wirtschaftssystemen zu tun, die zunehmend in Konkurrenz zueinander stehen. Da ist erstens das staatskapitalistische Modell in China, geprägt von einer fast paradoxalen Verschränkung marktwirtschaftlicher Elemente, staatlicher Planwirtschaft und algorithmisch lenkender Universalkontrolle. Vor allem in den USA gibt es zweitens ein Modell, das sehr stark kapitalkonzentriert ist. Es gibt dort starke Venture-Capital-Gesellschaften und viel Risikokapital, gleichermaßen angezogen und angetrieben von Zuversicht und Innovationslust.
Und wie sieht das bei uns aus?
In Europa haben wir es drittens mit einer Art Zwischenmodell zu tun, genauer: mit einer sozialen Marktwirtschaft, die die Kräfte und Erträge der wirtschaftlichen Freiheit zugleich entfesselt, korporativ bindet und politisch möglichst breit zu verteilen sucht. Welcher dieser drei Wege ist besonders geeignet, um Wohlstand zu generieren? Welches System hat den Menschen am meisten zu bieten? Die Antworten darauf fallen weltweit sehr unterschiedlich aus. Und die Vorzüge unseres Modells sind in Asien und Afrika erklärungsbedürftig.
Vor welchen großen Fragestellungen steht unsere marktliberale Grundordnung noch?
Von innen stellt sich die Herausforderung in zweifacher Weise. Erstens sind die drei Wirtschaftswunder-Jahrzehnte schon ein halbes Jahrhundert vorbei. Das Wachstum in den Wohlfühlzonen unserer Volkswirtschaften hat sich abgeflacht – und ist heute nicht mehr selbstverständlich. Um das zu verstehen, genügt ein aktueller Blick auf die prekäre Gasversorgung, aber auch auf die demografische Lage und der beiläufige Hinweis auf fehlende IT-Spezialistinnen und Lehrer, Handwerkerinnen und Pfleger. Und natürlich müssen wir auch die ökologischen Grenzen des Wachstums adressieren, eine Art intergenerationelle Gemein-Wirtschaft etablieren, die sich nicht ihrer eigenen Grundlagen beraubt. Kurzum: Die Frage nach dem Bedingungs- und Befruchtungsverhältnis von Demokratie und Wirtschaft stellt sich heute so elementar wie vielleicht noch nie. Und viele Beiträge des Essaypreises spiegeln, wie bedeutsam neue Denkwege sind, um das Zusammenspiel von Demokratie und Wirtschaft zu revitalisieren.
Inwieweit verstärkt der Krieg in der Ukraine die Situation?
Liberale Demokratien haben seit dem Zusammenbruch des Sowjet-Kommunismus Probleme, von sich selbst überzeugt zu sein. Sie sind normativ arm und geprägt von einer „schwachen Toleranz“ der Duldsamkeit: Jeder ist seines Glückes Schmied, kann machen, was er möchte. Diese Gesellschaften zeichnen sich durch wenig Zusammenhalt aus. Es fällt ihnen schwer, an gemeinsamen Zielen zu arbeiten. Insofern bietet der russische Vernichtungsfeldzug gegen die Ukraine uns schon eine Möglichkeit der „negativen“ Selbstvergewisserung. Die liberalen Demokratien spüren, dass sie nicht nur ökonomisch herausgefordert werden von Systemkonkurrenten, sondern auch existenziell gefährdet sind. Die Wiederkehr des „Außen“ zwingt uns zur Redefinition des „Innen“, und das kann durchaus dazu führen, dass wir uns der Bedeutsamkeit demokratischer Prozeduren und rechtsstaatlicher Prinzipien, einer freien Presse und marktwirtschaftlichen Ordnung wieder bewusster werden. Es wäre ein positiver Nebeneffekt dieses furchtbaren Krieges.
Wandel durch Handel, Demokratisierung durch ökonomische Verflechtungen. Mit diesem Prinzip wollte der Westen autoritären Regimes Paroli bieten – ist das Modell gescheitert?
Ich würde nicht sagen, dass es gescheitert ist. Es war naiv und dumm, „Wandel durch Handel“ herbeisehnen zu wollen, also zu glauben, wir könnten politische Systeme, nationale Stolzkollektive und religiösen Eifer im Wege der wirtschaftlichen Verflechtung nach dem Vorbild des Westens „zivilisieren“ und demokratisieren. Allerdings ist prinzipiell nichts gegen Handel und globale Arbeitsteilung einzuwenden, im Gegenteil: Sie bringen Gesellschaften einander näher, begünstigen Rückkopplungseffekte - und sind die Basis für ein Bewusstsein, dass alle Länder weltweit Partner brauchen, um globale Fragen zu lösen. Und weil diese Fragen nur im Dialog gelöst werden können, ist es heute umso dringlicher, Partnerländer darauf hinzuweisen, dass wir Demokratie und Marktwirtschaft für die besten Rezepte halten, um für die meisten nachhaltigen Wohlstand und Zufriedenheit zu generieren.
Die Demokratie scheint überall auf der Welt bedroht zu sein – muss sie zu Transformation fähig sein?
Es stimmt, die aktuellen Demokratie-Indizes weisen darauf hin, dass viele Demokratien weltweit fragil, brüchig und prekär geworden sind. Kein schöner Befund. Aber welche Konsequenz ziehen wir daraus? Ich meine: Wir müssen kräftiger denn je den alltäglich spürbaren Wert marktwirtschaftlicher Prinzipien und funktionierender Institutionen unterstreichen – und eine positive Selbsterzählung in die Welt tragen. „Der Westen“ denkt immer subsidiär, vom einzelnen Menschen, von den Möglichkeiten seiner individuellen Freiheit aus – das ist, wenn man so will, seit der Aufklärung unsere „Identität“ – und ich bin überzeugt, dass dieser Grundgedanke auch heute noch verfängt: Jeder Mensch möchte vor allem nicht in der Macht eines anderen stehen – möchte nichts weiter als in Frieden und Freiheit seinen Geschäften nachgehen können, ohne dabei von kriegerischen Potentaten, drangsalierenden Polizisten oder korrupten Amtsträgern behelligt zu werden. Und dieses Elementarinteresse stellen liberale Demokratien immer noch am besten sicher.
Sie sind zum dritten Mal Jurymitglied des Essaypreises, was nehmen Sie persönlich mit, nachdem Sie die vielen Einsendungen gelesen haben?
Ich bin von der Bandbreite der zuletzt 126 eingereichten Beiträge überwältigt und nehme als Journalist viele neue Denkanstöße mit, übrigens auch aus den Jurysitzungen. Es blitzen neue Ideen auf, es verändern sich Perspektiven, es formen sich frische Sichtweisen. Der Essaypreis demonstriert auf diese Weise am kleinen Beispiel seiner selbst die Überlegenheit pluraler Gesellschaften: Hier können Gedanken frei zirkulieren und oszillieren – im Fall des Essaypreises zwischen sprachlichem Reichtum und inhaltlicher Exzellenz. Gleichzeitig freue ich mich für die WirtschaftsWoche, dass wir durch die Medienpartnerschaft mit der Hertie-Stiftung und den Essaypreis mit Autorinnen und Autoren in Kontakt kommen, die wir bisher noch nicht kannten, deren Beiträge eine Bereicherung für unsere Zeitschrift sind. Der Essaypreis zeigt also auch ganz praktisch, wie Demokratie und Marktwirtschaft bestens harmonieren können.
Das Interview führte Rena Beeg für die Gemeinnützige Hertie-Stiftung.
Die Siegertexte 2021 finden Sie unter: wiwo.de/essaypreis