EU-Austritt mit Folgen Brexit, Scoxit und andere Wahrheiten

Schottland strebt wegen des EU-Austritts Großbritanniens ein neues Unabhängigkeitsreferendum an. Doch schwächt dieser Schritt vor allem die wirtschaftlichen Argumente der schottischen Nationalisten. Eine Analyse.

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Die britische Premierministerin Theresa May (li.) im schottischen Edinburgh mit Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon. Schottland strebt wegen des Brexits ein neues Referendum über eine Unabhängigkeit von Großbritannien an. Quelle: dpa

London Um eine klare Antwort auf die schottische Frage hat sich Theresa May herumgedrückt. Dass Großbritanniens Premierministerin jedoch von dem erneuten Streben Schottlands nach Unabhängigkeit nichts hält, das hat sie bei ihrem Parlamentsauftritt am Dienstag nicht zu verhehlen versucht: Die regierende Schottische Nationalpartei spreche stets über den Europäischen Binnenmarkt. Aber der einzige Markt, der für Schottland von Wichtigkeit sein müsste, sei eigentlich der britische Markt, giftete May.

Einen Tag zuvor hatte Nicola Sturgeon, die schottische Ministerpräsidentin, angekündigt, die Vorbereitungen für eine neue Abstimmung über Schottlands Zukunft innerhalb des Königsreichs offiziell in Gang zu setzen. Sie begründete das mit dem britischen EU-Austritt. Die Schotten, die mehrheitlich im Sommer 2016 für Europa stimmten, sollten die Staatengemeinschaft nicht gegen ihren Willen verlassen müssen. Sturgeon will, dass die Region den Zugang zum Europäischen Binnenmarkt behält – auch wenn der Rest Großbritanniens diesen aufgibt.

May lehnt solche Sonderlösungen ab. Sie hat es bisher auch vermieden zu sagen, ob sie ein neues Unabhängigkeitsreferendum im Norden der Insel zulassen wird. Die Schotten brauchen grünes Licht aus London, um eine verbindliche Abstimmung machen zu können. An Mays Argument, dass für Schottland vor allem der britische Markt wichtig sein sollte, ist jedoch etwas dran.

Schottland exportiert mehr als dreimal so viel in den Rest Großbritanniens als in andere EU-Länder. Die wirtschaftlichen Risiken, die auf ein eigenständiges Schottland zukämen, sind also enorm. Denn wäre Schottland dann EU-Mitglied, würde es eine harte Grenze zum EU-Ausland Großbritannien geben und damit möglicherweise Zölle und andere Handelsbarrieren. Der Brexit zwingt Sturgeon zwar, die Frage der Unabhängigkeit erneut zu stellen. Doch gleichzeitig schwächt dieser Schritt die wirtschaftlichen Argumente der schottischen Nationalisten.

Dazu trägt auch der gesunkene Ölpreis bei. Der lässt die schottischen Steuereinnahmen aus der Ölförderung in der Nordsee schrumpfen und hinterlässt ein Haushaltsdefizit, das etwa zehn Prozent des schottischen Wirtschaftsoutputs entspricht, wäre Schottland ein unabhängiges Land. 

Im Herbst 2014, als Schottland über die Abspaltung von Großbritannien abstimmte und sich dagegen entschied, kostete Rohöl noch mehr als 100 Dollar pro Barrel. Inzwischen hat sich der Preis mehr als halbiert. Hinzu kommt: Die Reserven in der Nordsee gehen zurück.

Die hohe Abhängigkeit von der Rohstoffbranche hat auch das Wirtschaftswachstum im Norden der Insel verlangsamt. In zwei der vergangenen fünf Quartale stagnierte Schottland sogar. Noch vor dem Unabhängigkeitsreferendum vor gut zweieinhalb Jahren entwickelten sich die Wirtschaft in Schottland und die im Rest Großbritanniens in einem ähnlichen Tempo.

Ohnehin ist völlig unklar, ob Schottland nach dem Brexit in der EU bleiben kann oder sich neu um die EU-Mitgliedschaft bewerben muss und wie lang dieser Prozess dauern wird. Auch diese Unsicherheit dürfte es dem Unabhängigkeitslager im Norden der Insel schwer machen, die Mehrheit der Schotten für eine Abspaltung zu gewinnen. In Umfragen hat sich zuletzt die Hälfte der Befragten dafür ausgesprochen.

May hat daher einen Punkt, dem wohl auch Schotten zustimmen, wenn sie sagt: Ein erneutes Referendum in Schottland würde zu viel wirtschaftlicher Unsicherheit führen. Den Schotten eine Abstimmung zu verweigern, wäre dennoch falsch. Es würde das Streben nach Unabhängigkeit nur verstärken und könnte heftige Reaktionen zur Folge haben – im schlimmsten Fall eine Verfassungskrise, warnen Experten.

Beobachter gehen daher davon aus, dass May grünes Licht geben wird, allerdings für eine Abstimmung, die erst nach dem Brexit über die Bühne gehen wird. Sturgeon will das Referendum eher abhalten – zwischen Herbst 2018 und Frühjahr 2019, wenn die künftigen Beziehungen zwischen London und Brüssel klarer werden, Großbritannien der EU aber noch nicht den Rücken gekehrt hat.

Doch bei der Frage des Zeitpunkts sitzt May am längeren Hebel. Ein späteres Referendum muss für die Schotten nicht schlecht sein, können sie bis dahin einige Unsicherheiten ausräumen und ihre Entscheidung auf einer besseren Grundlage treffen.

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