EU einigt sich auf neuen Flüchtlingspakt Hoffnung auf die Wende

Die EU hat sich mit der Türkei auf einen Flüchtlingspakt verständigt. Die Kooperation hat eine Chance verdient. Nur in der Praxis wird sich zeigen, ob das Kalkül von Merkel aufgeht – und die EU die Aufgabe meistern kann.

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Flüchtlinge sollen künftig aus Griechenland in die Türkei zurückgeschickt werden. Quelle: AP

Brüssel Tag X ist nun wohl am Sonntag, 20. März – Flüchtlinge, die danach irregulär über die Ägäis in Griechenland anlanden, sollen in die Türkei zurückgeschickt werden. Darauf haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs mit dem türkischen Regierungschef Ahmet Davutoglu geeinigt. Damit zahlt sich die Hartnäckigkeit, mit der Bundeskanzlerin Angela Merkel die Flüchtlingskrise seit Monaten einer gesamteuropäischen Bewältigung zuführen will, erstmals aus.

Mit der europäisch-türkischen Vereinbarung steht die EU nach Monaten der Streitigkeiten und Selbstzerfleischung an einem Wendepunkt – das Ziele, die Eindämmung der Flüchtlingsströme, rückt näher. Der Pakt erhöht die Chance, bis Ende des Jahres in der EU wieder zur Normalisierung und offenen Binnengrenzen in einem funktionsfähigen Schengen-Raum zurückzukehren. Es gilt nun, diese Aussicht nicht zu vermasseln. Das Projekt hat eine Chance verdient. Denn nur in der Praxis wird sich zeigen, ob das Kalkül aufgeht. Europäische Akteure sollten sich deshalb jedwede Querschüsse sparen.

Viel wird davon abhängen, ob Griechenland seiner Aufgabe gerecht werden und die nötige administrative und juristische Infrastruktur auf seinen Inseln aufbauen kann. Das Land soll alle Flüchtlinge registrieren und jedem Einzelnen die Möglichkeit geben, einen Asylantrag zu stellen. Entschieden und abgeschoben wird dann innerhalb weniger Tage. So ist der Plan.

Athen selbst hat dafür kaum 300 Juristen und Richter, benötigt würden aber 2000 zusätzliche Experten, wie es heißt. Die EU-Partner haben ihre personelle Unterstützung angeboten. Damit sollten beide Seiten nicht warten. Alle Staaten der Gemeinschaft müssen nun unter Beweis stellen, dass sie in der Lage und willens sind, an einem Strang zu ziehen – und das auch in die gleiche Richtung.

Nur dann kann die Logik hinter dem Vorhaben aufgehen. Sicher nicht sofort, aber doch innerhalb der nächsten Wochen. Die Logik lautet: Die gefährliche Reise übers Mittelmeer verliert für Schutzsuchende an Reiz, wenn es nach der Ankunft in Griechenland sogleich in die Türkei zurückgeht – und sich eben jene Flüchtlinge dann hinten anstellen müssen, wenn es darum geht, sich um die legale Umsiedlung in die EU zu bewerben. Die Konsequenz: Der Anreiz, den illegalen Weg in die EU zu nehmen, sinkt. Es riskieren immer weniger Migranten die teure und lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer.


Zugeständnisse an die Türkei

Im Gegenzug hat die EU politische Zugeständnisse gemacht, die der autokratisch regierende türkische Präsident Erdogan innenpolitisch als Erfolg seines politischen Pokerspiels verkaufen kann: visafreies Reisen für Türken in die EU sobald wie möglich, Wiederbelebung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Eröffnung des Kapitels über „Finanz- und Haushaltsbestimmungen“ sowie jede Menge Geld, nämlich sechs Milliarden Euro bis 2018, zur Versorgung jener 2,7 Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge, die heute in der Türkei leben. Außerdem nimmt die EU für jeden zurückgewiesenen Migranten einen syrischen Flüchtling aus einem der türkischen Lager auf – vorerst bis zu 72.000.

Das ist kein schmutziger Deal auf Kosten von Menschenrechten, wie Kritiker behaupten. Es ist ein Abkommen, das von politischer Pragmatik gekennzeichnet ist – und von der Einsicht, dass die Solidarität der EU nach innen einen Anstoß von außen benötigt hat.

Gleichwohl sollte die Vereinbarung mit der Türkei die Erwartungen nicht zu hoch steigen lassen. Denn weder beseitigt sie die Fluchtursachen noch kann sie die grundsätzliche Dramatik einer zu erwartenden Völkerwanderung aus Afrika kaschieren. Nicht nur Experten erwarten diese in den kommenden Jahren und Jahrzehnten.

Dass sich Flüchtlingsbewegungen nun wieder verstärkt andere Routen suchen, beispielsweise von Nordafrika aus übers Mittelmeer zur italienischen Insel Lampedusa, ist wahrscheinlich. Hier muss die EU mit ähnlich gearteten Verabredungen mit anderen Staaten vorbauen.

Erfolgreich umgesetzt, verschafft die europäisch-türkische Allianz den Europäern etwas Luft, sich auf die Migrationsherausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik mit effektivem Verteilerschlüssel, einem schlagkräftigen gemeinsamen Küsten- und Grenzschutz sowie einer harmonisierten außenpolitischen Strategie bleibt so drängend wie zuvor.

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