EU-Gipfel in Brüssel Paris ganz nah, London weit weg

Der Gipfel in Brüssel zeigt: Die Machtverhältnisse in der EU verschieben sich. Berlin und Paris dominieren, die restlichen Mitglieder stehen unter Druck. London hat sich komplett ins Abseits manövriert. Ein Kommentar.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und der französische Präsident Emmmanuel Macron sprechen am 23.06.2017 in Brüssel (Belgien) auf einer Pressekonferenz beim EU-Gipfel. Neben Migration und Terrorismus steht auch der Brexit auf der Agenda des zweitägigen Treffens. Foto: Olivier Matthys/AP/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ Quelle: dpa

Brüssel Angela Merkel hat schon einige Übung darin, nach EU-Gipfeln zusammen mit französischen Präsidenten vor die Presse zu treten. Mit Nicolas Sarkozy und mit Francois Hollande gab es bereits solche gemeinsamen Auftritte und nun auch mit dem neuen französischen Staatsoberhaupt Emmanuel Macron.

„Diese Pressekonferenz zeigt, dass wir gemeinsam zur Lösung von Problemen entschlossen sind“, sagte die Bundeskanzlerin am Freitag in Brüssel. Die Chefs der beiden größten EU-Staaten ließen bei dem zweitägigen Treffen keine Gelegenheit aus, sich gegenseitig zu umschmeicheln. Macron sprach von einer „sehr starken gemeinsamen Vision“, ja sogar von einer deutsch-französischen Symbiose“. „Nur wenn Frankreich und Deutschland sich einig sind, kommt Europa voran“, sagte der französische Präsident.

Die neue „extrem enge Zusammenarbeit“ (Macron) zwischen Berlin und Paris trug bei diesem Treffen der EU-Staats- und Regierungschefs bereits erste Früchte: Die EU-Chefs beschlossen, verteidigungspolitisch enger zusammenzurücken – sowohl bei militärischen Einsätzen als auch bei der Beschaffung von Rüstungsgütern. Der Beschluss sei ganz wesentlich von Deutschland und Frankreich angestoßen worden und beide Länder wollten künftig „noch weitergehen“ in Richtung EU-Verteidigungsunion, sagte Macron.

Merkel und Macron werden sich in den nächsten Wochen sehr oft treffen, allein in der ersten Juli-Hälfte dreimal: Beim europäischen Festakt in Straßburg für Helmut Kohl am 1. Juli, beim G20-Gipfel in Hamburg am 7. Juli und beim deutsch-französischen Ministerrat in Paris am 13. Juli. Dann wollen Deutschland und Frankreich ein erstes Papier mit möglichen gemeinsamen Reforminitiativen für die EU vorlegen. Drei Monate später, also nach der Bundestagswahl im Herbst, sollen Details folgen. Die Weiterentwicklung der EU-Verteidigungspolitik wird dabei ein Thema sein, die Vertiefung der Eurozone ein weiteres. Auch zur künftigen Finanzierung der EU wollen die beiden größten EU-Staaten gemeinsame Ideen lancieren.

Der deutsch-französische Gestaltungswille für Europa ist aus einem langen Tiefschlaf wieder erwacht. Das verändert die machtpolitischen Koordinaten in der EU: Gemeinsam sind die beiden größten EU-Staaten doppelt so stark wie allein. Das bedeutet automatisch, dass andere EU-Mitglieder schwächer werden. Zum Beispiel Polen, Ungarn und die Slowakei. Im Westen der EU ärgert man sich schon lange über die Regierungen in Budapest, Warschau und Bratislava: Weil sie keine Flüchtlinge aufnehmen wollen und weil sie gegen rechtstaatliche Grundsätze der EU verstoßen. Doch nun wird der Ton rauer, denn Merkel und Macron blasen ins selbe Horn. Die EU sei „kein Supermarkt“, in dem man nur kaufen könne, was einem schmeckt, hielt Macron den Osteuropäern entgegen. Verstöße gegen gemeinsame Werte müssten „beim Namen genannt werden“, so Macron.

Der neue deutsch-französische Schulterschluss dürfte die Lage auch für einen anderen großen EU-Staat gründlich verändern: Italien betrachtete das sozialistisch regierte Frankreich bisher als engen Verbündeten. Beide Länder haben Probleme mit verschleppten Reformen und einer zu hohen Staatsverschuldung. Macron will sein Land wirtschaftlich nun aber unbedingt wieder nach vorn bringen und packt unpopuläre Reformen etwa auf dem Arbeitsmarkt zügig an. Der neue französische Präsident orientiert sich anders als sein Vorgänger nicht an den schwachen, sondern an den starken EU-Staaten. Die italienische Regierung wird daher in Paris nicht mehr dasselbe Verständnis wie bisher finden für seine Wachstumsschwäche und seinen gewaltigen Schuldenberg. Der Reformdruck auf Italien dürfte ganz erheblich zunehmen.

Was Frankreich und Deutschland mit der EU in Zukunft noch vorhaben, blieb am Freitag weitgehend unklar. Weder Merkel noch Macron wollten sagen, welche Reformen sie in der Eurozone anstreben und ob dafür Veränderungen des EU-Vertrags von Lissabon nötig sind. Vertragsänderungen seien „weder Selbstzweck noch Tabu“, sagte Macron und wiederholte damit vorherige Worte der Kanzlerin fast wörtlich.

Vor der Bundestagswahl im Herbst werden die beiden größten EU-Staaten kaum konkreter werden. Danach müssen sie aber zügig liefern. Sonst kann die in Brüssel heute so sorgfältig inszenierte deutsch-französische Freundschaft auch ganz schnell wieder zur politisch substanzlosen Routine verkommen.

Die neue Nähe zwischen Deutschland und Frankreich kontrastiert auffällig mit der immer größeren Distanz zu Großbritannien. Premierministerin Theresa May darf zwar noch an EU-Gipfeltreffen teilnehmen, doch wirklich ernst genommen wird sie von ihren Amtskollegen nicht mehr. Mays Vorschlag zum künftigen rechtlichen Status von EU-Bürgern in Großbritannien nahmen die anderen am Donnerstag zur Kenntnis – mehr nicht. Merkel sah darin lediglich „einen Anfang“. Andere große Probleme – die finanziellen Verpflichtungen der Briten gegenüber der EU, die Grenzfrage in Nordirland – hätten die Briten noch gar nicht angepackt.

Paris ist wieder ganz nah an Berlin herangerückt, London dagegen so weit entfernt wie noch nie.

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