EU-Kommissar Günter Verheugen "Kommission nicht sich selbst überlassen"

Seite 2/2

Und das soll Wirkung zeigen? Wie wenig der Stabilitätspakt wert ist, lässt sich aktuell am Beispiel Griechenland ablesen, dessen Regierung über Jahre dreist falsche Daten nach Brüssel geliefert hat.

Das ist doch kein Problem des Stabilitätspaktes, der wichtig ist und der funktioniert. Man muss sich aber in der Tat fragen, warum ein Land schummelt und warum die falschen Daten so lange unentdeckt geblieben sind.

Ist in der Kommission über dieses Versagen diskutiert worden?

Nein, diese Frage ist noch nicht aufgeworfen worden. Und es fällt mir schwer, zu glauben, dass die übergroße Rücksicht nichts damit zu tun hat, dass Griechenland in den letzten acht Jahren eine konservative Regierung hatte.

Brüssel duldet einerseits Schummeleien, schreibt andererseits den Mitgliedsländern immer mehr Details vor. Wundert es Sie, wenn da Europaskepsis entsteht?

Vorsicht vor Vereinfachungen. Die Kommission hat gehandelt, als sie die Schummelei bemerkte. Und wir haben seit 2005 mit der Politik besserer Rechtsetzung begonnen, Überreglementierung abzuschaffen. Aber die Europaskepsis ist zäh. Und Interesselosigkeit an europäischer Politik gehört zu den Gründen. Ich habe mich oft gewundert, wie wenig die Betroffenen die Brüsseler Diskussionen begleiten und zu beeinflussen versuchen. Die nationalen Parlamente müssten sich viel mehr um die EU kümmern. Man weiß in Brüssel sehr lange im Voraus, woran gerade gearbeitet wird und was kommt. Im Gegensatz zu nationalen Regierungen, die manchmal sehr erratisch handeln, geht es in Brüssel sehr planmäßig zu. Ich bin gegen einen europäischen Superstaat. Aber das setzt voraus, dass die Idee der Subsidiarität wirklich ernst genommen und verteidigt wird.

Mit dem Argument, Regulierung müsse auf der niedrigstmöglichen Ebene geschehen, fordern doch die Mitgliedstaaten, Bundesländer und sogar die Kommunen die EU zur Mäßigung auf.

In der Praxis verteidigen die Mitgliedsländer den Subsidiaritätsgedanken nicht entschlossen genug. Ich verzweifle manchmal, wenn ich sehe, wie schnell auf Subsidiarität verzichtet wird, sobald die Kommission mit Geld winkt. Die Kommission kann nicht der einzige Hüter der Subsidiarität sein, sie hat eine andere Perspektive und auch andere Interessen. Ich habe die Sorge, dass die meisten Regierungen sich zu wenig darum kümmern, wie die Kommission denkt und wie sie operiert. Man darf die Kommission nicht sich selbst überlassen.

Weil sie dann wie jede Bürokratie in die Tendenz verfällt, sich selbst zu stärken und neue Einflussbereiche zu suchen?

Die Kommission darf nur das tun, was ihr alle EU-Staaten an Kompetenzen zuweisen. Die Kommission entwickelt sich immer mehr in Richtung einer Regierung, was wichtig und richtig ist, aber damit kommen wir zu einem Strukturproblem jeder modernen Demokratie.

Was bedeutet das?

Die Staatstätigkeit wird immer detaillierter und greift in immer mehr Lebensbereiche ein. Zugleich wird das zu Regelnde immer komplizierter – und damit die Kontrollmöglichkeiten der Politik begrenzter. Wie soll ich als Nichtnaturwissenschaftler entscheiden, ob der Grenzwert für einen Stoff bei 0,0001 Gramm oder bei 0,001 Gramm liegen soll? Ich kann mich nur auf das verlassen, was Wissenschaftler und die Experten der eigenen Generaldirektion sagen. Weil wir eine hoch spezialisierte Gesetzgebung auf europäischer Ebene haben, die sich von der Natur der Sache der politischen Kontrolle entzieht, muss jedes Mitglied der Kommission darauf vertrauen, dass jeder Generaldirektor, jeder Direktor und jeder Abteilungsleiter die politische Intention des Kommissars und Kollegiums kennen und umsetzen.

Und das aus Ihrem Munde! Haben Sie sich nicht häufig über das Eigenleben der Kommissionsbeamten beschwert?

Als Kommissar bin ich nicht vergleichbar mit einem deutschen Minister. Ich habe dieselbe Verantwortung, aber nicht dieselben Instrumente, meine Verantwortung zu steuern. Es fehlt die Personalhoheit, die Finanzhoheit und die Organisationshoheit. Es ist in diesem System möglich, die politische Kontrolle sicherzustellen und den Vorrang der Politik. Es bedarf aber eines großen Zeitaufwandes und einer hohen fachlichen Autorität.

Welchen Ratschlag geben Sie Ihrem Nachfolger Günther Oettinger?

Wie einflussreich ein Kommissar ist, hängt nicht davon ab, aus welchem Land er kommt und welches Portfolio er hat. Es hängt von der Überzeugungskraft der Persönlichkeit ab.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%