EU-Kommissar Günter Verheugen "Kommission nicht sich selbst überlassen"

Der scheidende EU-Kommissar Günter Verheugen über Europas drohenden Bedeutungsverlust, deutsche Abwehrreflexe und griechische Schummeleien.

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Guenter Verheugen (AP Quelle: AP

WirtschaftsWoche: Herr Verheugen, Sie waren mehr als zehn Jahre lang Deutschlands EU-Kommissar. Was muss sich ändern, damit die EU künfti besser funktioniert?

Verheugen: Die Übersetzung europäischer Politik auf die nationale Ebene muss verbessert werden. Es gibt eine mentale Teilung: wir hier in Deutschland – und die da in Brüssel. Unbequeme Regelungen werden immer auf Brüssel geschoben. Ich halte diese Denkweise für einen schweren Fehler, denn in Wirklichkeit gibt es nur eine einzige Kategorie: „Wir in Europa.“

In dieser Kategorie denkt kaum jemand...

...und wir sehen, wohin es führt. Europa ist nicht darauf vorbereitet, dass sich die Welt in den kommenden Jahrzehnten radikal verändern wird. Wir sind nicht darauf eingestellt, politisch und wirtschaftlich eine Rolle zu spielen, die gleichberechtigt ist mit anderen Wirtschaftsräumen der Welt. Das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen war ein Lehrbeispiel, wie wenig Einfluss Europa auf den Rest der Welt hat. Wir sind davon ausgegangen, dass die anderen uns folgen, wenn wir Ziele setzen. Dass es nicht so kam, war eine bittere Lehre.

Mit dem Vertrag von Lissabon hat die EU einen Präsidenten und eine Außenministerin bekommen. Beide sollen die Union nach außen besser vertreten. Wird das helfen?

Der neue Vertrag eröffnet die Möglichkeit, eine einheitliche Außenvertretung aufzubauen. Aber im Augenblick ist das nicht mehr als eine Möglichkeit. Und man kann Fragezeichen machen, ob die Schaffung von mehreren Ämtern tatsächlich zu mehr Klarheit in der Führungsstruktur der EU führt.

Wenn europäische Interessen einheitlich vertreten werden sollen, müssten die nationalen Hauptstädte Macht abgeben. Sind die denn dazu bereit?

Kein einziger Mitgliedstaat ist weltpolitisch so wichtig, dass er alle Interessen allein durchsetzen kann. Wer das aber nicht kann, hat keine Macht. Unser europäisches Problem ist, dass in vielen weltpolitisch wichtigen Fragen unterschiedliche nationale Sichtweisen dazu führten, dass wir Europäer am Ende gar nichts zu sagen hatten – wie im Fall des Irak-kriegs. Vereint hätten die Europäer damals Einfluss auf die US-Position haben können. Aber die Europäer haben sich auseinanderdividiert. Nicht nur ich habe das als Demütigung empfunden, bei der sich die ganze Einflusslosigkeit der Europäer gezeigt hat.

Ist die EU nicht selbst schuld, wenn in den Hauptstädten so wenig Begeisterung für sie herrscht? Vor zehn Jahren wollte man Europa binnen eines Jahrzehnts zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt machen. Davon sind wir heute weit entfernt.

Es wurden Erwartungen geweckt, von denen 2000 schon klar war, dass sie nicht erfüllt werden konnten. Niemand hatte sich Gedanken gemacht, wie sich die hehren Ziele umsetzen lassen. Und niemand hat sich bis 2005 für die Umsetzung politisch engagiert. Die Ziele gelingen aber nur, wenn die EU und die Mitgliedstaaten an einem Strang ziehen, denn wir haben keine Instrumente, die stark genug sind, die ökonomische Koordinierung in der EU sicherzustellen. Bei politischen Schwierigkeiten zu Hause ist das nationale Hemd oft näher als der europäische Rock.

Die Deutschen sind die ersten, die sich gegen eine ökonomische Koordinierung in der EU stellen!

Das hat Gründe und eine lange Vorgeschichte. 2005 stimmte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder der Europäischen Partnerschaft für Wachstum und Beschäftigung nur zu, weil wir versprochen haben, kein Überwachungsinstrument wie den Stabilitätspakt einzubauen. Schröder sagte, er wolle vier Wochen vor der Bundestagswahl keinen Brief bekommen, der ihm eine grottenschlechte Wirtschaftspolitik bescheinigt. Schröder war damit aber nicht allein.

Die spanische Ratspräsidentschaft hat Anfang des Jahres eine Überwachung der Wirtschaftspolitik mit Sanktionsmechanismen angeregt. Das Veto aus Berlin kam postwendend.

Die Spanier haben inzwischen gesagt, dass es sich um einen Übersetzungsfehler handelte. Auch Berlin hat ein Interesse an besserer Koordinierung. Wenn wir die europäische Wirtschaft insgesamt voranbringen, profitieren die Deutschen am meisten davon.

Wie müsste die stärkere Koordinierung denn aussehen?

Der Lissabon-Vertrag sieht die Möglichkeit vor, Empfehlungen zur Wirtschaftspolitik der Mitgliedsländer abzugeben. Ein Instrumentarium wie im Stabilitätspakt bis hin zu Sanktionen ist unrealistisch und im Vertrag nicht vorgesehen.

Und das soll Wirkung zeigen? Wie wenig der Stabilitätspakt wert ist, lässt sich aktuell am Beispiel Griechenland ablesen, dessen Regierung über Jahre dreist falsche Daten nach Brüssel geliefert hat.

Das ist doch kein Problem des Stabilitätspaktes, der wichtig ist und der funktioniert. Man muss sich aber in der Tat fragen, warum ein Land schummelt und warum die falschen Daten so lange unentdeckt geblieben sind.

Ist in der Kommission über dieses Versagen diskutiert worden?

Nein, diese Frage ist noch nicht aufgeworfen worden. Und es fällt mir schwer, zu glauben, dass die übergroße Rücksicht nichts damit zu tun hat, dass Griechenland in den letzten acht Jahren eine konservative Regierung hatte.

Brüssel duldet einerseits Schummeleien, schreibt andererseits den Mitgliedsländern immer mehr Details vor. Wundert es Sie, wenn da Europaskepsis entsteht?

Vorsicht vor Vereinfachungen. Die Kommission hat gehandelt, als sie die Schummelei bemerkte. Und wir haben seit 2005 mit der Politik besserer Rechtsetzung begonnen, Überreglementierung abzuschaffen. Aber die Europaskepsis ist zäh. Und Interesselosigkeit an europäischer Politik gehört zu den Gründen. Ich habe mich oft gewundert, wie wenig die Betroffenen die Brüsseler Diskussionen begleiten und zu beeinflussen versuchen. Die nationalen Parlamente müssten sich viel mehr um die EU kümmern. Man weiß in Brüssel sehr lange im Voraus, woran gerade gearbeitet wird und was kommt. Im Gegensatz zu nationalen Regierungen, die manchmal sehr erratisch handeln, geht es in Brüssel sehr planmäßig zu. Ich bin gegen einen europäischen Superstaat. Aber das setzt voraus, dass die Idee der Subsidiarität wirklich ernst genommen und verteidigt wird.

Mit dem Argument, Regulierung müsse auf der niedrigstmöglichen Ebene geschehen, fordern doch die Mitgliedstaaten, Bundesländer und sogar die Kommunen die EU zur Mäßigung auf.

In der Praxis verteidigen die Mitgliedsländer den Subsidiaritätsgedanken nicht entschlossen genug. Ich verzweifle manchmal, wenn ich sehe, wie schnell auf Subsidiarität verzichtet wird, sobald die Kommission mit Geld winkt. Die Kommission kann nicht der einzige Hüter der Subsidiarität sein, sie hat eine andere Perspektive und auch andere Interessen. Ich habe die Sorge, dass die meisten Regierungen sich zu wenig darum kümmern, wie die Kommission denkt und wie sie operiert. Man darf die Kommission nicht sich selbst überlassen.

Weil sie dann wie jede Bürokratie in die Tendenz verfällt, sich selbst zu stärken und neue Einflussbereiche zu suchen?

Die Kommission darf nur das tun, was ihr alle EU-Staaten an Kompetenzen zuweisen. Die Kommission entwickelt sich immer mehr in Richtung einer Regierung, was wichtig und richtig ist, aber damit kommen wir zu einem Strukturproblem jeder modernen Demokratie.

Was bedeutet das?

Die Staatstätigkeit wird immer detaillierter und greift in immer mehr Lebensbereiche ein. Zugleich wird das zu Regelnde immer komplizierter – und damit die Kontrollmöglichkeiten der Politik begrenzter. Wie soll ich als Nichtnaturwissenschaftler entscheiden, ob der Grenzwert für einen Stoff bei 0,0001 Gramm oder bei 0,001 Gramm liegen soll? Ich kann mich nur auf das verlassen, was Wissenschaftler und die Experten der eigenen Generaldirektion sagen. Weil wir eine hoch spezialisierte Gesetzgebung auf europäischer Ebene haben, die sich von der Natur der Sache der politischen Kontrolle entzieht, muss jedes Mitglied der Kommission darauf vertrauen, dass jeder Generaldirektor, jeder Direktor und jeder Abteilungsleiter die politische Intention des Kommissars und Kollegiums kennen und umsetzen.

Und das aus Ihrem Munde! Haben Sie sich nicht häufig über das Eigenleben der Kommissionsbeamten beschwert?

Als Kommissar bin ich nicht vergleichbar mit einem deutschen Minister. Ich habe dieselbe Verantwortung, aber nicht dieselben Instrumente, meine Verantwortung zu steuern. Es fehlt die Personalhoheit, die Finanzhoheit und die Organisationshoheit. Es ist in diesem System möglich, die politische Kontrolle sicherzustellen und den Vorrang der Politik. Es bedarf aber eines großen Zeitaufwandes und einer hohen fachlichen Autorität.

Welchen Ratschlag geben Sie Ihrem Nachfolger Günther Oettinger?

Wie einflussreich ein Kommissar ist, hängt nicht davon ab, aus welchem Land er kommt und welches Portfolio er hat. Es hängt von der Überzeugungskraft der Persönlichkeit ab.

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