EU-Ratspräsidentschaft Vorreiter Estland will Europa digitalisieren

Estland übernimmt für ein halbes Jahr die EU-Ratspräsidentschaft und konzentriert sich besonders auf einen Schwerpunkt: Die Digitalisierung Europas. In diesem Bereich könnte das baltische Land das beste Vorbild sein.

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Ob ländlich oder städtisch, in Estland bekommt man nahezu überall Zugang zum Internet. Quelle: dpa

Tallinn Man wolle den europäischen Winter der Meinungsverschiedenheiten überwinden und den Weg ebnen für einen neuen Frühling. Fast lyrisch klingt es, wenn die estnische Präsidentin Kersti Kaljulaid die Ziele der EU-Ratspräsidentschaft ihres Landes beschreibt.

Am 1. Juli übernimmt das kleine baltische Land für ein halbes Jahr den Vorsitz. In der Hauptstadt Tallinn gibt man sich keinen Illusionen hin, dass das Land mit gerade einmal knapp über 1,3 Millionen Einwohnern Berge versetzen könnte. Dennoch will man dem Vorsitz in den kommenden sechs Monaten einen eigenen Stempel aufsetzen.

Estland übernimmt die Ratspräsidentschaft in einer schwierigen Zeit, in der neben harten Diskussionen über die mangelnde Aufnahmebereitschaft von Flüchtlingen einiger osteuropäischer Staaten vor allem heftig mit London über den Brexit verhandelt werden wird. „Das Leben geht weiter“, erklärte die EU-Botschafterin der Baltenrepublik, Kaja Tael, vor einigen Tagen in Brüssel. Soll heißen: Ja, die Brexit-Verhandlungen würden schwierig werden, doch man wolle sich in erster Linie auf die eigenen Schwerpunkte konzentrieren.

Und zu diesen Schwerpunkten zählt vor allem die Digitalisierung. Ein digitales Europa mit freiem Datenverkehr ist eines der Hauptziele der Drei-Parteien-Koalition von Premier Jüri Ratas. Er führt seit vergangenem Herbst eine Regierung aus seiner Zentrumspartei, den Sozialdemokraten sowie dem konservativen Bündnis IRL an.

Ratas möchte eine fünfte Grundfreiheit der EU hinzufügen: Neben dem freien Warenverkehr, der Personenfreizügigkeit, dem freien Kapitalverkehr und der Dienstleistungsfreiheit solle auch der freie Datenverkehr zu den Grundprinzipien der EU zählen, erklärte er. Viele Länder hätten die Voraussetzungen dafür, allerdings sei die Furcht vor einer Lockerung des Datenschutzes ein schwer zu überwindender Hinderungsgrund bei der Umsetzung, erklärte auch die estnische EU-Botschafterin.

Der Digitalisierungsfokus ihres Landes überrascht nicht, versuchen doch alle EU-Mitglieder während ihrer Ratspräsidentschaft gerade Themen voranzutreiben, bei denen man selbst Vorreiter ist. Und das ist Estland im Bereich der Digitalisierung seit Langem.


Digitales Leben

Heute ist das Land mit seinen etwa 1,3 Millionen Einwohnern, von denen rund ein Drittel in der mittelalterlichen Hauptstadt Tallinn lebt, fast komplett online. Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung profitieren von der schnellen LTE/4G-Mobilfunktechnologie, die den Internetzugang auch in den ländlichen Gegenden ermöglicht. Dabei ist in keinem anderen Land in Europa der Breitbandausbau so weit fortgeschritten wie in Estland. Öffentliche und kostenlose Hotspots gehören zum Alltag wie anderenorts die Straßenbeleuchtung.

Das ist auch notwendig, denn mittlerweile geht in der baltischen Republik so gut wie nichts mehr analog: Das Kabinett stimmt elektronisch ab, alle Dokumente der Regierung gibt es nur als digitale Datei. Jeder Este besitzt einen elektronischen Ausweis. Ohne ihn läuft nichts mehr, denn die Chipkarte dient gleichzeitig als Führerschein, Bahnticket oder Versicherungskarte. Die Esten können mit ihrem Ausweis bezahlen, Bankgeschäfte abwickeln oder eine digitale Unterschrift unter Dokumente setzen. Ein digitaler Staat, der sämtliche Dienstleistungen vom Grundbucheintrag bis zur Adressänderung online anbietet.

Estland war auch das erste Land der Welt, das bei den letzten Parlamentswahlen das E-Voting, die Stimmabgabe über das Internet, erlaubte. Und viele Esten zogen den Browser der Wahlkabine vor.

Seit 2015 können auch Ausländer an der digitalen Revolution teilhaben: Estland bietet eine virtuelle Staatsbürgerschaft an. Nach einer Prüfung durch Polizei und Grenzschutz erhält man für 50 Euro einen digitalen Ausweis, der das Eröffnen eines Bankkontos oder die Registrierung einer Firma zu einer Sache von wenigen Minuten macht. „Wir holen so Unternehmen digital in unser Land, in das sie sonst nicht kommen würden“, erklärt Taavi Kotka, IT-Beauftragter der Regierung.

Die digitale Revolution wurde nur wenige Jahre nach der Unabhängigkeit 1990 eingeleitet. Das Land war nach jahrzehntelanger Besatzung durch die damalige Sowjetunion heruntergewirtschaftet. Eine Infrastruktur gab es nicht – Estland startete von null. Seit 2002 erhält jeder Bürger eine Identifikationsnummer. Das schuf die analoge Grundlage für das digitale System. Andrus Ansip, EU-Kommissar für digitale Fragen, war dabei eine Schlüsselfigur. Als Regierungschef zwischen 2005 und 2014 trieb er die Digitalisierung voran.

Dass Skype in Tallinn entwickelt wurde und sein Entwicklungszentrum immer noch dort hat, verwundert kaum. Auch das Nato-Kooperationszentrum für Cyberverteidigung liegt in der estnischen Hauptstadt. Nun hofft Präsidentin Kaljulaid, dass Estlands Digitalisierung zum Modell für die EU wird.

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