EU und Türkei Ein Pakt mit dem Teufel?

Die EU lässt sich auf die Türkei ein – und anders herum. Erdogan will Flüchtlinge zurücknehmen, dafür will er Visafreiheit. Kompromisse schön und gut, aber die Details sollte sich die EU gut überlegen. Ein Gastkommentar.

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Die Premierminister von Griechenland und der Türkei schlagen ein: Es soll eine Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise geben. Quelle: AFP

Berlin Die Türkei gibt Europa eine Chance. So könnte man das Ergebnis der Tagung vom 7. März in Brüssel auf den Punkt bringen, bei der sich die Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten mit dem türkischen Premierminister Ahmet Davutoglu trafen, um einen Ausweg aus der Flüchtlingskrise zu finden. Denn hätte Davutoglu seinen Vorschlag nicht auf den Tisch gelegt, wäre neben dem Lippenbekenntnis zu Schengen als Ergebnis nur herausgekommen, dass die Balkanroute weiter für Migranten geschlossen bleibt und sich europäische Politik ausschließlich als Bodensatz einer Reihe von nationalen Entscheidungen formiert. Die Initiative des türkischen Ministerpräsidenten gibt Europa nun eine wohl letzte Chance, eine gemeinsame Linie zu finden.

Im Kern besteht die Idee Davutoglus aus zwei Schritten: Erstens soll die EU-Außengrenze in der Ägäis durch die Rücknahme irregulär aus der Türkei eingereister Migranten durch die Türkei gesichert werden; zweitens sollen durch die Übernahme von in der Türkei bereits registrierter syrischer Flüchtlingen durch die Mitgliedstaaten der EU legale Fluchtwege nach Europa geschaffen werden. „Uns treiben primär humanitäre Überlegungen an“, sagte Davutoglu nach dem Treffen. Tatsächlich ist es unbestreitbar, dass Europa mit einer solchen Lösung nicht nur seine Handlungsfähigkeit beweisen, sondern auch sein humanitäres Gesicht wahren könnte. Niemand müsste mehr in der Ägäis ertrinken. 

Doch kann ein solcher Plan verwirklicht werden? In der EU formiert sich Widerstand aus zwei verschiedenen Ecken. In Osteuropa will man möglichst gar keine Flüchtlinge aufnehmen, egal ob legal oder illegal gestrandet. In Westeuropa herrschen, was die Menschenrechtslage in der Türkei selbst betrifft, moralische Bedenken; politisch fürchtet man, die Zusammenarbeit könne das Tor zur Mitgliedschaft Ankaras in der EU zu weit aufstoßen. Doch viel gravierender können sich einige Details des Deals auswirken, insbesondere vor dem Hintergrund der komplexen und teilweise widersprüchlichen Intentionen der Türkei.

Denn in gewissem Sinne treibt die Türkei Europa vor sich her. Mehr als einmal hat Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan – er ist es, der in Ankara die Zügel in der Hand hält – offen damit gedroht, die Flüchtlingskrise für Europa noch weiter zu verschärfen, indem er etwa Flüchtlinge mit Bussen an die Grenze bringen lässt. In großem Stil begann die Überfahrt von der Türkei nach Griechenland erst, nachdem Politiker der Regierungspartei AKP und ihre Presse öffentlich mit diesem Szenario gespielt hatten.

Auch das Agieren der Türkei nach der Verabschiedung des Gemeinsamen Aktionsplans im Oktober 2015 gibt bisher wenig Anlass zur Hoffnung: Zwar hat die türkische Regierung gleich nach dem Gipfel mit der EU Ende November demonstriert, wie effektive ihre Behörden gegen Schlepper vorgehen und irreguläre Migration aus der Türkei verhindern können und damit Handlungsfähigkeit bewiesen. Doch schon nach einer Woche herrschte wieder der alte Trott. Erneut konnten die Schlepper ihrem Geschäft weitgehend ungehindert frönen. Denn Ankara macht die Schleusen je nach politischem Bedarf auf und zu, um der EU zu verdeutlichen, wie sehr sie auf die Türkei angewiesen ist. 


Nicht auf die Türkei vertrauen

Vor diesem Hintergrund erscheint die vorgesehene Regel, nach der Europa der Türkei genauso viele Syrienflüchtlinge abnimmt, wie diese vorher aus Griechenland zurückgenommen hat, in einem anderen Licht. Denn in diesem Modell entscheidet die Türkei praktisch alleine, wie viele Migranten aus welchen Herkunftsländern es auf griechische Inseln schaffen und auf Kosten der EU in die Türkei zurückgebracht werden. Diese Zahl wiederum entscheidet, wie viele Syrienflüchtlinge aus der Türkei direkt von der EU zu übernehmen sind. Die Regelung beruht deshalb auf einem Vorschuss an Vertrauen, für den es bislang wenig Grund gibt.

Das gilt in gleichem Maße für die in der Erklärung zum Gipfel formulierte Absicht, gemeinsam mit der Türkei dafür zu sorgen, dass Flüchtlinge in „sicheren Zonen“ in Syrien selbst verbleiben können. Die Türkei hat bisher zwar tatsächlich Großes für die Flüchtlinge geleistet. Doch war die Flüchtlingsfrage für Ankara stets auch ein Instrument ihrer Syrienpolitik. Schon 2012, damals lag die Zahl der Flüchtlinge in der Türkei noch unter 100.000, hatte Ankara die Uno und die USA gedrängt, im Nachbarland Flugverbotszonen einzurichten.

Die Zonen sollten dazu dienen, die Luftwaffe des Regimes auszuschalten, um den Sturz Assads zu beschleunigen. Für Ankara hat dieses Ziel noch heute absoluten Vorrang. Durch die russische Intervention ist seine Verwirklichung jedoch in weite Ferne gerückt. Wer heute in Syrien einseitig Flugverbotszonen installieren will, und nichts anderes sind „sichere Zonen“, trägt zur weiteren Eskalation des Krieges bei. 

Anstatt der türkischen Regierung in diesen beiden Fragen zu sehr entgegenzukommen, sollte die EU sich lieber offen für deren sonstige Forderungen zeigen. Wenn unbestritten ist, wie viel teurer Integration in Europa als in der Türkei ist, sollte über zusätzliche finanzielle Forderungen Ankaras nicht gestritten werden. Zudem ist die Visafreiheit für die Bürger der Türkei in der Schengen-Zone längst überfällig. Sie fördert nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen und kulturellen Austausch. Darauf sind türkische Demokraten angesichts der verheerenden Erosion der Demokratie in der Türkei heute erneut existentiell angewiesen. Noch mehr gilt das für die Wiederaufnahme des erlahmten Beitrittsprozesses zur EU.

Nur als Beitrittskandidatin ist die Türkei für europäische Forderungen nach Standards von Rechtsstaatlichkeit empfänglich. Wer die Kooperation mit der Türkei wegen horrender Menschenrechtsverletzungen ablehnt, legt hingegen die Hände in den Schoß. Die Mitgliedschaft liegt ohnehin in weiter Ferne und ist nur nach einer Fülle von Reformen denkbar. Sie heute kategorisch auszuschließen und gleichzeitig auf die Türkei nicht nur zu hoffen, sondern zu vertrauen, ergibt keinen Sinn.

Günter Seufert forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu türkischer Innen- und Außenpolitik. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.

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