EU-Verhandlungsführer Michel Barnier Brexit-Verhandlungen auf Kollisionskurs

Die Stimmung zwischen EU und Großbritannien verschlechtert sich zusehends. EU-Verhandlungsführer Barnier äußert heftige Kritik. Die britische Regierung wird zu Hause für einen zu weichen Kurs angegriffen.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

London Die Stimmung zwischen den beiden Verhandlungspartnern für den bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU) wird zusehends schlechter. Nach dem Streit über die so genannte „Brexit-Rechnung“ zeichnet sich ein weiterer Konflikt ab. „Die Position Großbritanniens zu Irland und Nordirland bereitet mir Sorgen“, kritisierte der Verhandlungsführer für die EU, Michel Barnier.

Die britische Regierung hatte kürzlich Positionspapiere zu verschiedenen Themen vorgelegt, darunter ein Dokument zu Nordirland und Irland. Das Thema hat große Brisanz: Denn wenn sich Großbritannien aus der EU verabschiedet, zieht sich eine EU-Außengrenze quer über die Insel. Sollten Grenzkontrollen eingeführt werden, könnte das aber nicht nur die Wirtschaft behindern, sondern sogar den Frieden zwischen beiden Teilen Irlands gefährden, befürchten viele. Denn auch wenn die Kämpfe zwischen den pro-irischen Katholiken unter Führung der Untergrundorganisation IRA gegen pro-britische Protestanten mit dem Karfreitagsabkommen 1998 beendet wurden, sind noch immer Spannungen in der Bevölkerung zu spüren.

In ihrem Positionspapier hatte die britische Regierung angekündigt, auch nach dem Austritt aus der EU im März 2019 keine sichtbare Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland errichten zu wollen. Vielmehr spricht man sich in London für ein neues Zollabkommen mit der EU aus, so dass Grenzkontrollen nicht notwendig werden. Wünschenswert sei ein reibungsfreier Grenzverkehr ohne eine „physische Grenz-Infrastruktur und Grenzposten“. In Brüssel hatte man schon nach einem ersten Blick skeptisch reagiert: Die britischen Papiere, darunter auch das zum Personen und Warenverkehr an der Grenze zur Irland seien „stark von Wunschdenken“ geprägt, sagten EU-Diplomaten.

Barnier kritisierte den Vorschlag nun ebenfalls. Das Positionspapier sei keine Hilfe. „Großbritannien will, dass die EU an ihrer künftigen Außengrenze ihre Gesetze außer Kraft setzt ebenso wie die Zollunion und den Binnenmarkt“, sagte der EU-Verhandlungsführer. Irland solle eine Art Testlauf für die künftigen Zollbeziehungen zwischen Großbritannien und der EU sein. „Das wird nicht passieren.“ Die von Großbritannien so oft betonte „Kreativität und Flexibilität“ könne nicht zu Lasten der Integrität des Binnenmarktes und der Zollunion gehen. „Das wäre nicht fair gegenüber Irland und nicht gegenüber der EU.“ Man müsse eine harte Grenze vermeiden, bekräftigte er. Großbritannien müsse Vorschläge vorlegen, wie man dieses Ziel erreichen könne.

In London kam die Kritik aus Brüssel nicht wirklich an: Die Position der Kommission zu Nordirland und Irland zeige, dass die Ziele von Großbritannien und der EU „eng beieinander“ lägen, erklärte ein Regierungssprecher. Vor allem die Zusicherung, dass auch Brüssel eine physische Grenze mit der dafür notwendigen Infrastruktur vermeiden möchte, „ist ein sehr wichtiger Schritt vorwärts“. Doch Großbritannien könne nicht allein Vorschläge machen. „Wir werden unsere gemeinsamen Ziele nicht erreichen, wenn wir nur auf die Flexibilität Großbritanniens zählen“, betonte der Sprecher. Die Positionspapiere seien aber „eindeutig eine gute Basis, auf deren Grundlage wir weiterhin rasche Fortschritte machen werden“.


Bloß nicht weich fallen

Dass man in Brüssel nicht zufrieden mit den Ergebnissen der ersten Verhandlungsrunden sein würde, hatte sich bereits abgezeichnet. Der frühere EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy hatte im BBC-Radio erklärt, er sehe so gut wie keine Chance mehr, dass die Verhandlungen zwischen London und Brüssel im Oktober in die nächste Phase gehen könnten, wie es vereinbart war, wenn „ausreichende Fortschritte“ erzielt worden wären. „Ich bin nicht in die Verhandlungen eingebunden“, sagte er, aber „von dem was ich höre und in der Presse lese, sind die Chancen, dass wir im Oktober fertig sind, in der Nähe von null Prozent“. EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani kündigte in einem Interview mit „Politico Europe“ an, er werde sich dafür aussprechen, dass die zweite Phase der Gespräche nicht vor Dezember begonnen werde, da man in der ersten Phase noch nicht ausreichend Fortschritte erzielt habe. In Großbritannien sieht man das anders. Brexit-Minister David Davis betont unermüdlich, dass man – allen Schwierigkeiten zum Trotz – Fortschritte mache.

Premierministerin Theresa May lehnte es unterdessen ab, ihre Haltung vor dem Europäischen Parlament zu erklären. Wie der „Guardian“ berichtet, lehnte sie eine entsprechende Einladung ab. Ihre Begründung: Sie spreche lieber nur mit den Vorsitzenden der Fraktionen hinter verschlossenen Türen.

Derweil machen in Großbritannien die Befürworter eines harten Bruchs mit der EU mobil. Einem Bericht der „Times“ zufolge wollen rund 40 Abgeordnete der regierenden Tory-Partei vor einem „weichen Brexit“ warnen. Sie wollen nicht, dass Großbritannien während einer Übergangsphase nach März 2019 im Europäischen Binnenmarkt bleibt und in diesem Zeitraum noch Geld an Brüssel überweist – eine Option, die in der Regierung diskutiert wird, um der Wirtschaft die Umstellung zu erleichtern. „Das wäre eine EU-Mitgliedschaft, die anders heißt“, soll in dem Brief stehen. „Wir können nicht erlauben, dass unser Land heimlich in der EU bleibt“. Die Regierung müsse den Willen des britischen Volkes respektieren, „und das bedeutet, den Binnenmarkt zur gleichen Zeit zu verlassen wie die EU“.

Am Donnerstag wurde darüber hinaus im britischen Parlament über das so genannte Brexit-Gesetz, den „Repeal Bill“ debattiert. Dieses Aufhebungsgesetz umfasst alle Gesetze, die von den EU-Institutionen seit dem Beitritt Großbritanniens im Jahre 1972 gefasst wurden und dadurch auf der Insel galten. Mit dem Gesetzesentwurf sollen all diese Regelungen in nationales Recht überführt werden. Damit wird verhindert, dass Großbritannien nach dem Brexit in eine Art legislatives Loch fällt. Danach kann Gesetz für Gesetz auf den Prüfstand gestellt werden. Doch der Regierung schlägt Widerstand entgegen, vor allem wegen der in dem Gesetzesentwurf enthaltenen Forderung nach den so genannten „Henry VIII.“-Rechten. Demnach will sich die Regierung das Recht einräumen lassen, einige Gesetze ohne Parlamentsdebatte zu ändern – ein Recht, das sich König Henry VIII. im Jahr 1539 zugesprochen hatte. Am Montag wird über das Gesetz abgestimmt. Die Opposition hat bereits angekündigt, gegen den Gesetzesentwurf zu stimmen.

Die Kritik an ihrem Vorgehen könnte die Premierministerin gelassen sehen, wenn sie eine komfortable Mehrheit im Parlament hätte. Das ist nach dem desaströsen Abschneiden ihrer Partei in den letzten Wahlen aber nicht mehr der Fall. Zwar sind die Gerüchte, dass Premierministerin Theresa May in Kürze ihr Amt aufgeben muss, über den Sommer weitgehend verstummt – doch der Druck auf sie und ihre Regierung wächst. Von allen Seiten.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%