
Die Stimmung ist angespannt. 100 000 Menschen gingen vergangene Woche in Athen auf die Straße, um gegen die Sparbeschlüsse ihrer Regierung zu protestieren. Für Ende des Monats ist ein weiterer Generalstreik geplant. Und laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Public Issue wäre es einem Drittel der Griechen ohnehin am liebsten, eine Revolution würde die Probleme des Landes lösen.
Während in Griechenland der Unmut der Bevölkerung steigt, wird in Brüssel diskutiert, wie der immer näher rückende Bankrott des Landes abgewendet werden kann. Längst glaubt niemand mehr daran, dass das Land wie geplant im kommenden Jahr an die Finanzmärkte zurückkehrt. Die EU-Länder erwägen neue Hilfen unter Auflagen. „Wenn die Bedingungen erfüllt sind, können wir ein ergänzendes Programm verabreden“, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. „Werden sie nicht erfüllt, machen wir die Erfahrung, was mit einer Währungsunion geschieht, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, ihre Probleme zu lösen.“
So drastisch hatte das bisher noch niemand formuliert. Gut ein Jahr nachdem die EU das erste Hilfspaket für Griechenland beschlossen hat, geht es um mehr als das nächste Kapitel in einem nicht enden wollenden Drama. Europa ist an einem Punkt angekommen, an dem es seinen Herausforderungen nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Plötzlich steht nicht weniger als die Zukunft der Europäischen Union auf dem Spiel.
Ausnahmezustand wird in der EU zum Alltag
Viele hatten gehofft, das Jahr 2010, in dem die Euro-Rettungsaktionen anliefen, als „Annus horribilis“, als Schreckensjahr, abschreiben zu können. Doch nachdem in diesem Jahr auch Portugal Hilfe von außen benötigte, das irische Rettungsprogramm neue Probleme aufwirft und die griechische Misere mehr und mehr außer Kontrolle gerät, wird der Ausnahmezustand zum Alltag in der EU.
Es ist eine explosive Mischung: In den Mitgliedstaaten wachsen die sozialen Spannungen, viele wirtschaftliche Probleme sind ungelöst. Gleichzeitig nimmt allerorten der Nationalismus zu. Europa wird nicht als die Lösung, sondern als das Problem angesehen. Ein Auseinanderbrechen der EU wäre vor allem für Deutschland fatal. Deutschland braucht die Gemeinschaft. Die Globalisierung, die wachsenden weltweiten Herausforderungen, kann kein Mitgliedstaat mehr alleine meistern.
Ein Versehen?
Es ist vor allem der Ton, der in diesen Tagen erschreckt. So poltert Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Arbeitnehmer in Europas Süden sollten mehr arbeiten, obwohl die Griechen auf eine höhere Jahresarbeitszeit kommen als die Deutschen. Ein Versehen? Eher unwahrscheinlich, denn als detailbewusste Naturwissenschaftlerin hat die Kanzlerin Statistiken für gewöhnlich gut im Griff. Aber kleine Unverschämtheiten werden in Europa zur Regel. So forderte der griechische Oppositionsführer Antonis Samaras gerade erst Steuersenkungen für sein Land, wohl wissend, welche Provokation dies für die Geldgeber bedeutet.
Noch vor wenigen Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass ein Politiker trotzig den Rückzug des eigenen Landes aus der EU in Aussicht stellt, wenn ihm der europäische Kurs gerade nicht passt. Roberto Maroni, der Innenminister Italiens bemerkte vor wenigen Monaten patzig, sein Land müsse es sich überlegen, „ob es sich noch lohne, Teil der EU zu sein“. Angesichts des Flüchtlingsstroms aus Nordafrika fühlte er sich zu wenig unterstützt. Indem Italien den Flüchtlingen Papiere zur Weiterreise in den Schengen-Raum ausstellte, brachte sie eine Diskussion in Gang, wie die Reisefreiheit in der EU wieder zurückzuschrauben ist. Eines der Kernelemente der Gemeinschaft, deren Nutzen sich jedem Bürger erschließt, wird in aller Seelenruhe demontiert.