
Brüssel Jean-Claude Juncker hat seinen Finger in eine Berliner Wunde gelegt. Luxemburgs Premier hat sich den Hinweis erlaubt, dass der deutsche Schuldenberg relativ zur jährlichen Wirtschaftsleistung höher ist als der spanische. Das ist noch nicht alles. Auch die Niederlande, Finnland, die Slowakei, Slowenien, Estland, Luxemburg, Österreich, Malta und Zypern stehen bei der Staatsverschuldung viel besser da als Deutschland. Wer selbst auf einem derart hohen Schuldenturm sitzt und anderen von oben herab Lektionen über Haushaltsdisziplin erteilt, der sorgt für Verdruss in Europa.
Doch in diesen Krisenzeiten gebärden sich die Deutschen mal wieder gerne als Stabilitätsapostel und kehren vor den Türen der anderen. Vor der eigenen häuft sich derweil Unrat an. Die Berliner Regierungskoalition hält es zum Beispiel für opportun, Mütter mit einer staatlichen Herdprämie von der Berufstätigkeit abzuhalten. Das Betreuungsgeld schadet der Wirtschaft, die nach Fachkräften sucht und unter einer viel zu niedrigen Frauenerwerbsquote leidet. Wehe den Griechen, Portugiesen und Iren, wenn sie sich eine derart dreiste Verschwendung von Steuergeldern leisten würden.
Viele Deutsche können sich anscheinend nicht vorstellen, dass ihre eigene Finanzpolitik in Europa jetzt auch unter Beobachtung steht. Der Rest der Euro-Zone registriert sehr genau, wie Deutschland von der Schuldenkrise profitiert. Weil immer mehr Anleger in deutsche Staatsanleihen fliehen, sinkt deren Zinsniveau. Der Bundesfinanzminister kann beim Schuldendienst enorm sparen und kassiert nebenbei auch noch Zinsen für die Kredite an Griechenland. Auch das ist deutsche Stabilitätskultur. Anderen Europäern bleibt da nur noch die Faust in der Tasche.
Die Gewinne aus der Krise werden in Berlin stillschweigend einkassiert, die Risiken hingegen lautstark beklagt - etwa für den Euro-Rettungsschirm. Hier erreicht die Heuchelei ihren Höhepunkt. Welche Institution der Euro-Zone soll eigentlich eingreifen, falls das mittelfristig durchaus solvente Italien kurzfristig in akute Zahlungsnot gerät? Der EFSF kann es nicht, weil die Bundesregierung ihn finanziell zu knapp hält. Eine nochmalige Anhebung des EFSF-Bürgschaftsrahmens scheiterte vor allem am deutschen Widerstand. Die EZB darf es aber auch nicht, sagen die Deutschen. Der Aufkauf von Staatsanleihen sei nicht mit dem geldpolitischen Auftrag der Notenbank vereinbar.
Merkel könnte die EZB aus ihrer Zwickmühle befreien. Sie könnte dem Euro-Rettungsschirm ein höheres Finanzvolumen zugestehen, damit er Italien notfalls retten kann. Dafür müsste die Kanzlerin den deutschen Steuerzahlern allerdings ein höheres Ausfallrisiko zumuten, beim Koalitionspartner FDP kämpfen und bei der Bundestagswahl politisch geradestehen. Verglichen damit ist es durchaus bequem, die Notenbank die Kohlen aus dem Feuer holen zu lassen - selbst wenn man damit ein bisschen Inflation riskiert. Honni soit qui mal y pense.