Europa Deutschland gibt seine Führungsrolle auf

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Briten, Franzosen und auch Staaten wie Irland und Spanien achten schon seit geraumer Zeit darauf, ihre Leute an den richtigen Stellen zu platzieren. Wenn es auch Deutschland tut, dann horchen alle auf. Dasselbe gilt für die antieuropäische Stimmungsmache. Der neue britische Regierungschef David Cameron hat in der Vergangenheit kaum eine Gelegenheit ausgelassen, die EU in ihre Grenzen zu weisen. Wenn Angela Merkel es dagegen unterlässt, für das Euro-Rettungspaket in Deutschland zu werben, wird ihr das stark angekreidet. So rüffelte Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Kanzlerin, weil sie den Bürgern die Vorteile der Währungsunion nicht erklärt habe: „Ich wünsche mir von der deutschen Führung, dass sie für Europa eintritt.“

Für die EU ist die neue deutsche Haltung ein schwerer Schlag. Deutschland fühlt sich nicht mehr so verantwortlich für den Zusammenhalt der Gemeinschaft, wie das lange der Fall war. Aber wer tut es dann? Die Kommission fällt für diese Rolle aus, zu sehr haben die Mitgliedstaaten Kommissionspräsident José Manuel Barroso in den vergangenen Monaten aus dem Zentrum des Geschehens herausgedrängt. In der Euro-Krise wurde er von den Staats- und Regierungschefs zum Statisten degradiert. Indem sie eine eigene Gruppe zur Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts unter Ratspräsident Herman Van Rompuy eingesetzt haben, machten sie deutlich, dass sie von Vorgaben der Kommission wenig halten.

Ferne Vision

Es fehlt nicht nur ein Schlichter in Europa, auch ein Impulsgeber zeichnet sich nicht ab. Großbritannien hat kein Interesse an einer weiter gehenden europäischen Integration. Frankreich ist in der Theorie proeuropäisch, kneift aber gerne, wenn es – zum Beispiel beim Energie-Binnenmarkt – konkret wird. Belgien, dessen früherer Premier Verhofstadt in einem Buch einst seine Vision der Vereinigten Staaten von Europa skizzierte, ist seit Jahren wegen des Streits zwischen Flamen und Wallonen paralysiert. Wenn das Land am 1. Juli die EU-Präsidentschaft übernimmt, hat es mit Sicherheit keine neue Regierung, denn nach den Wahlen vom Sonntag dürfte es eine Weile dauern, bis eine Koalition steht.

Polen, das sich jüngst überraschenderweise sogar am Rettungsmechanismus für Länder in Finanzschwierigkeiten beteiligt hatte, obwohl es kein Mitglied der Euro-Zone ist, könnte vielleicht eines Tages eine wichtigere Rolle spielen – aber doch erst in der fernen Zukunft. Beobachter wie EPC-Experte Emmanouilidis halten deshalb flexible Führungskoalitionen in bestimmten Bereichen für eine wahrscheinliche Variante.

Vorvergangene Woche einigten sich 14 der 27 EU-Staaten auf einheitliche Regeln für die Scheidung binationaler Ehen. Erstmals wurde das Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit genutzt, bei dem ein EU-Gesetz nur in einem Teil der Gemeinschaft gilt. Lange Zeit hat gerade Deutschland für Einheitlichkeit gekämpft, weil es einen Flickenteppich vermeiden wollte. Doch das hat sich nun geändert. Die EU wird wahrscheinlich in Zukunft häufiger auf die „verstärkte Zusammenarbeit“ zurückgreifen. Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sprach bei der Abstimmung zur Scheidung von einem „historischen Moment“. Das war es auch. Aber in einem ganz anderen Sinn, als sie es meinte.

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